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Kultur: Mehr Null-Euro-Jobs!

Berliner Off-Bühnen-Marathon: 122 Theatergruppen feiern Abschied von der Globalisierung

In Zeiten grassierender sozialer Unsicherheit kann das Theater mächtig Trost spenden. Besonders das Off-Theater, denn im Gegensatz zu den etablierten, allmählich verarmenden Staatssubventionsbühnen sind die meisten Künstler hier daran gewöhnt, mit Minimalbudget zu leben und ein authentisches Vorbild für den gewöhnlichen Sozialhilfeempfänger abzugeben – irgendwas stellt man auch ohne Geld auf die Beine. Ein unermesslicher Inspirationsquell ist in diesem Sinne das 100-Grad-Berlin-Festival, das nunmehr zweite lange Wochenende der Freien Szene, das von 122 Hauptstadt-Gruppen als Vier-Tage-Marathon auf sämtlichen verfügbaren Spielstätten der Sophiensäle und des Hebbel am Ufer (HAU) über die Bühne ging.

Kultursenator Thomas Flierl lobte in seiner Eröffnungsansprache, derlei Ressourcenbündelung sei zwar kein Königsweg aus der Krise der öffentlichen Kulturförderung, aber doch ein Mut machender Schritt. Außerdem pries er die Vielseitigkeit der jungen Institution, die nebenbei auch Kontakt- und Austauschbörse für die beteiligten Künstler sowie Heiratsmarkt sein will, und verwies auf die sinkende Scheidungsquote in finanziell mageren Tagen.

Wie im richtigen Leben nagt während des 100-Grad-Festivals zwar stets das angstvolle Gefühl, das Beste zu verpassen, weil etliche der höchstens einstündigen Vorstellungen parallel stattfinden. Doch was die Freie Szene derzeit bewegt, das vermittelt sich auch dem Flaneur zwischen all den Minidramen, Pantomimen, Performances, Videoinstallationen und der mobilen LKW–Sauna des Künstlers Hamster Damm vor dem HAU. Das Spektrum reicht wie erwartet von karnevalesk bis hochkunstversessen, von dilettantisch bis dadaistisch, von schrecklich bis staunenswert. Hebbel-Chef Matthias Lilienthal befindet zum Abschluss, das Vorjahresniveau sei überboten worden – und wir wollen ihm das gerne mal glauben.

Was bleibt: Wenig Konkretes zur Lage der Nation. Abgesehen vom Frauen-Trio „ex defekt“, das als mobiler Bügeldienst den Null- Euro-Job etabliert und für Brot und Bier plättet, was die Zuschauer hergeben, gibt es kaum Innovatives aus dem Krisenland. Sicher, die Regisseurin Yvette Coetzee ruft zur Vorrunde des ersten Berliner Jammerwettbewerbs auf. Was einen fröhlichen StammtischSkandal im Stile der Dresdner „Weber“-Inszenierung erhoffen lässt, klingt aber eher nach angeschickerten Eckkneipen-Unikaten, die den Tod von Prominenten fordern. Und entpuppt sich als Profi-Motzerei unter Anleitung eines Schmieren-Conferenciers für drei Schauspieler, die in halb aufgeregten Freestyle-Tiraden BVG und Praxisgebühr duchhecheln müssen.

Selbstverständlich hat man in der Freien Szene die Lacher sicher, wenn man Darsteller ein Best-of der gedruckten Verbal-Entgleisungen von Claus Peymann und Peter Zadek vortragen lässt. Auch die Bekenntnisbücher von Boris Becker, Oliver Kahn und Heino sind nicht arm an unfreiwilliger Komik. Doch irgendwann erlahmt der Spaß an der Selbstentblößung dieser großen Deutschen, denen man die Heimat ja eigentlich nicht mal in der Witz-Revue überlassen will.

Erfreulich hingegen, dass offensichtlich vorerst Abschied vom beliebten Eintopf-Thema Globalisierung genommen werden darf. Nur vereinzelt bleierne Wirtschaftskritik im Hochhuth’schen Dozierstil, kaum gestresste Manager, die gar nicht mehr wissen, auf welchem Flughafen sie sich befinden. Nein, die Freie Szene besinnt sich aufs Familiäre und die gute alte Mann- Frau-Problematik in all ihren schillernd-schmerzhaften Facetten . Stille, unprätentiöse Stücke wie die rührende Leihmutter-Tragödie „Als das Wünschen nicht mehr geholfen hat“ von Ingrid Kaech sind da zu nennen. Simon Froehlings Arbeit für den Theaterdiscounter, „Familie Kern fährt ans Meer“, überzeugt als bedrückend verlogenes Kleinfamilienstillleben mit Stricher – und ist allemal eindrücklicher als die „Sollbruchstellen“ seiner Discounter–Kollegin Anne Verena Freybott, die Angehörige von Alzheimer–Patienten die fabelhafte Welt der Amnesie feiern lässt.

Unvergesslich, auch das beweist das 100 Grad-Festival, bleiben sowieso nur wenige Zeitgenossen. Es kann nie schaden, sich an Klassikern zu versuchen. Wie die Ernst-Busch-Regieschülerin Julie Pfleiderer, die in „richard 3*“ Shakespeares unsterbliches Scheusal-Drama als lässige Stuhllümmelei für fünf Schauspieler inszeniert. Oder Anja Gronau, die in „Grete (nach Goethes Faust)“ der Fräulein-Wunde des blondbezopften Sehnsuchtsobjekts nachspürt und dem Gretchen zu einem beherzt-emanzipatorischen Liebesmonolog verhilft.

Dass die Beschäftigung mit der Theatergeschichte lohnt, ist indes keine Überraschung. Ebenso wenig, dass für ironische Mannsbilder nach wie vor die großen Diktatoren bestens herhalten, die in Gestalt von Stalin, Hitler oder Milosevic durch eine Vielzahl von Texten und Performances geistern. Verblüffend aber der Höhepunkt des Festivals: Wie viel dramatische Wucht lauert oft dort, wo man sie am wenigsten vermutet. Regiestudent André Rößler setzt Joschka Fischers Trimm-Dich-Ratgeber „Mein langer Lauf zu mir selbst“ in Szene. Mit dem dauerjoggenden Schauspieler Maximilian Grill als Pummel-Minister, der sich atemlos die Kilos ausredet. Ein privat-politisches Fanal in Zeiten sozialer Unsicherheit.

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