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Kultur: Mein Leben als Opfer

Von Orgeln, Tattoos und älteren Frauen: John Irvings Roman „Bis ich dich finde“ zieht zu viele Register

Von Gregor Dotzauer

Nichts gegen Literatur als Therapie. Gute Bücher entstehen aus Geldgier, Sportsgeist oder Ruhmsucht, ja selbst aus Hass oder Misogynie. Man muss nicht Großneurotiker wie Marcel Proust, Franz Kafka oder Thomas Mann bemühen, um an die segnende Kraft seelischer Zwangslagen für die Kunstproduktion zu erinnern. Wenn John Irving sich mit seinem elften Roman „Bis ich dich finde“ und fast 64 Jahren endlich ein sexuelles Kindheitstrauma von der Seele schreibt, könnte das ein Lektürefest sein: bei allem verborgenen Leid so komisch wie „Garp und wie er die Welt sah“, das Buch, mit dem er 1978 weltberühmt wurde, und so grotesk wie „Das Hotel New Hampshire“ von 1981. Aber was ist dieser kiloschwere, autobiografisch eingefärbte Ziegelstein?

Irving gehörte nie zur ersten Liga amerikanischer Schriftsteller. Mit seiner Verachtung für die Intellektualisierung des Romans im 20. Jahrhundert und seine bis zum Überdruss beschworene Verehrung für den Realismus des 19. setzte er sich bestimmten Ansprüchen gar nicht erst aus. Ihm fehlt die den eigenen Dämonen zu Leibe rückende Schärfe von John Cheever, der hellsichtige Sarkasmus von Saul Bellow und die das Dunkle nicht scheuende Komik von Philip Roth. Auch als Stilist mangelt es ihm an deren Dichte und Präzision. Doch er verfügt über einen umwerfenden feel good-Charme, und man kann sich seinen Geschichten bedenkenlos anvertrauen.

„Bis ich dich finde“, ein „Bildungsroman“, wie Irving erklärt hat, erzählt von Jack Burns’ Suche nach seinem Vater, einem berühmten Organisten und berüchtigten Frauenhelden. Am Anfang ist Jack vier Jahre alt, und er reist mit seiner Mutter Alice, einer Tätowiererin, durch Europa. Am Ende ist er Mitte dreißig, hat Jahrzehnte von sexueller Belästigung bis hin zum offenen Missbrauch durch ältere Frauen hinter sich, eine Don-Juan-lange Liste von Affären und eine Karriere als Hollywoodstar in Frauenkleidern. Und er gewinnt, nachdem er den Vater in einem Schweizer Sanatorium aufgespürt hat, eine völlig neue Perspektive auf die Geschehnisse seiner Kindheit.

Es herrscht, schon durch die kaum überschaubare Hundertschaft skurriler Charaktere, pausenlos Bewegung bei Irving – und zugleich eine freudlose Statuarik, soviel hier onaniert und in die Matratzen gesprungen wird. Irving müht sich nicht einmal, das zu verbergen, wenn er über Elena García, die Therapeutin des Helden und „das Gegenteil einer Lektorin“ behauptet: „Jack durfte nichts streichen: er war gehalten, nichts auszulassen. Und nicht selten wollte Dr. García noch mehr. Sie verlangte ,zusätzliche Belege‘. Beispiele für die von Dr. García schon frühzeitig festgestellte Fixierung auf ältere Frauen konnten gar nicht deutlich genug herausgestellt werden.“ Da befinden wir uns auf Seite 855 von 1140 und kennen nun zu allem geschwätzigen Überfluss auch noch das Erzählprogramm: alles auszusprechen, was geht. Das ist, mit Verlaub, das Gegenteil von Literatur. Doch damit begnügt sich Irving nicht.

„Bis ich dich finde“ ist so miserabel geschrieben, dass man meinen könnte, kein Lektor habe einen Blick auf den Roman geworfen. Man kann gar nicht fassen, wie sich ein Autor, der so viel aufs Handwerk gibt, sich all die Redundanzen, Banalitäten und erzählpers- pektivischen Missgriffen erlaubt. Der Leser begleitet Alice und Jack unter anderem in ein Stockholmer Hotel. „Das Frühstück“, heißt es, „war im Zimmerpreis inbegriffen und ihre einzige vollständige Mahlzeit des Tages.“ Der übernächste Satz lautet: „Das Mittagessen ließen sie ausfallen.“ Sechs Seiten weiter bietet ein schwedischer Buchhalter im Gespräch mit Alice an, Jack von seiner Frau im Schlittschuhfahren unterrichten zu lassen. „Nicht dass Jack gehört hätte, was seine Mutter sagte“, lesen wir: „Der Junge war im Badezimmer.“ Im übernächsten Satz erfahren wir: „Vom Thema Schlittschuh laufen bekam er kein Wort mit.“ Welche Überraschung.

So geht es weiter, auf allen Ebenen: „Die Bogenportale im Korridor der Junior School ließen Jack an den Himmel denken“, steht da. Klammer auf: „Wenn es im Himmel so etwas wie einen Eingang gab, dann musste er wohl so aussehen, dachte er.“ Klammer zu. Jedes Detail wird aufgeblasen, es regiert die Zeilenschinderei.

Irving liebt es auch, aufregende Neuigkeiten mitzuteilen, etwa wenn er über elf-, zwölfjährige Mädchen schreibt: „In diesem Alter gibt es zwischen Mädchen große Unterschiede: Manche wirken und bewegen sich schon wie junge Frauen, andere haben knabenhafte Körper und bewegen sich eher, als wären sie schüchterne junge Männer.“Richtig grotesk wird es, wenn Irving gleich auf der ersten Seite Jacks wunderkindhaftes Erinnerungsvermögen beschreibt, um seine durch den Jungen geprägte personale Erzählperspektive zu rechtfertigen – und sich dann selbst in die Quere kommt. Da heißt es von einem Pärchen, das der vierjährige Jack beobachtet: „Wenn die beiden Hotelgäste waren, hatten sie vermutlich vorhin miteinander geschlafen – auch wenn Jack von diesen Dingen nichts wusste.“ Schon das überfordert das Maß dessen, was Jacks Sicht einschließen und der Erzähler ihm bestenfalls als Ahnung soufflieren kann. Endgültig kommt Irving ins Stolpern, wenn er hinzufügt: „Höchstwahrscheinlich konnten sie das Ende des Essens kaum erwarten, damit sie endlich wieder auf ihr Zimmer gehen und noch einmal miteinander schlafen konnten.“ Für diesen Lapsus gibt es 600 Seiten später zwar eine Erklärung – aber es bleibt ein Lapsus. Er gehört zu den Folgen eines erklärtermaßen vom feststehenden Ausgang der Geschichten her rückwärts vorgehenden Schreibprozesses, der einen ganzen Sack von Leitmotiven über dem Text ausschüttet – und das auch gern zur Unzeit. Lauter Versuche, im Wust der Ereignisse eine Kohärenz herzustellen, die eine innere Logik suggeriert.

Alles an diesem Roman bleibt äußerlich. Alles wird behauptet, nichts lebendig. Gleich ob Irving die Geschichte der Orgel recherchiert hat und von Walcker-Instrumenten und Barockprospekten berichtet: Der Klangfarbenreichtum des Instruments erstickt unter Lexikonstaub. Wenn er die Filmografien von François Truffaut und Ingmar Bergman herunterbetet: Was sie Jack bedeuten, erwähnt er nicht. Oder wenn er die Nadelstärke beim Tätowieren erwähnt: Das wirklich Physische spart er aus. Und so bleibt auch sein Held eine Körperhülle, an der sich sexuelle Energien austoben. Eine bewegende Figur wird nicht daraus.

Mit „Bis ich dich finde“ hat sich Irving als ernst zu nehmender Autor fürs Erste verabschiedet, ohne sich fürs rein unterhaltende Genre qualifiziert zu haben. Für die Zwischenwelt, in der er sich jetzt bewegt, gibt es nur ein hässliches Wort: Pseudo-Literatur.

John Irving: Bis ich dich finde. Roman. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren und Nikolaus Stingl. Diogenes Verlag, Zürich 2006. 1140 Seiten, 24,90 €.

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