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Kultur: Mein Name ist Marcuse, Herbert Marcuse

Tim B. Müller über die linken Intellektuellen im Dienst der US-Geheimdienste im Kalten Krieg

Dieses Buch ist ein intellektueller Thriller. Es nimmt seinen Leser mit auf eine aufregende Reise durch die Schattenwelt der amerikanischen Geheimdienste. Doch nicht Agenten und Spezialkommandos sind hier die Protagonisten, sondern die in die Vereinigten Staaten emigrierten deutschen Intellektuellen Herbert Marcuse, Otto Kirchheimer und Franz Neumann. Sie arbeiteten seit Anfang der 40er Jahre zusammen mit den amerikanischen Historikern Stuart Hughes, Carl Schorske und dem Soziologen Barrington Moore für das „Office of Strategic Services“, den unter der Abkürzung OSS bekannt gewordenen Kriegsgeheimdienst der USA. Ihre Aufgabe: Wissenschaftliche Aufklärung, Gegnerforschung und psychologische Kriegsführung.

Der am Hamburger Institut für Sozialforschung tätige Historiker Tim B. Müller beschreibt, wie sich der demokratische Sozialismus der Emigranten mit dem Linksliberalismus der Denker des „New Deal“ verband. Das Produkt waren Forschungs- und Strategiepapiere, die bereits zu Beginn des Kalten Krieges im amerikanischen Außenministerium gegen die Blockkonfrontation opponierten und für eine Entspannungspolitik warben. Dabei macht Müller deutlich, wie sehr Wissen, das von der offiziellen Linie abwich, nicht nur von den Geheimdiensten gesucht wurde, sondern zugleich von Beginn an integraler Bestandteil der Kultur des Kalten Krieges war.

Die amerikanischen Geheimdienste erscheinen hier nicht geprägt von einer paranoischen Erkenntnisproduktion, die nach Bestätigung politischer Vorannahmen sucht, sondern als ein hochkomplexes Wissenssystem, das ein wissenschaftliches Interesse verfolgt und nach permanenter Selbstkorrektur strebt. In dieser intellektuell produktiven Umgebung konnten Marcuse und seine Kollegen einen wichtigen Beitrag zum strategischen Wissen in den amerikanischen Staatsapparaten leisten. Marcuse selbst stand zuletzt der Kommunismusaufklärung des Außenministeriums vor. Zusammen mit seinen Mitarbeitern war er daran beteiligt, innerhalb des Regierungsapparats das monolithische Kommunismusbild zu dekonstruieren, das im Widerspruch zur „Keil-Strategie“, der Loslösung der kommunistischen Staaten von der Sowjetunion, stand.

Zwar waren die praktischen Folgen des so erzeugten strategischen Wissens für den Einzelnen nicht abzusehen. Doch trug es nach Müllers Analyse langfristig zur Etablierung der Entspannungspolitik bei. In den strategischen Diskussionen innerhalb der amerikanischen Regierung nutzten die Befürworter einer Entspannung zwischen den Blöcken das Expertenwissen des Geheimdienstapparats. Zugleich suchte die psychologische Kriegsführung, die die Geheimdienstforschung dominierte, nach Schwachstellen im gegnerischen System und entwarf – ihrer Eigenlogik folgend – ein zunehmend differenziertes Bild der Sowjetunion und des Kommunismus. So konnte sich auch die Hoffnung auf einen langfristigen Wandel des Ostblocks auf dieses Expertenwissen stützen.

Müller hat ebenfalls das materielle und institutionelle Umfeld untersucht, in dem sich Marcuse und seine Kollegen im Anschluss an ihren Einsatz im Geheimdienst bewegten. Die Ideale der philanthropischen Autonomie und der wissenschaftlichen Objektivität, denen die nun folgenden Förderungen verpflichtet waren, erwiesen sich dabei als politisch kontaminiert. Die Rockefeller Foundation hatte Anteil an der Errichtung des „national security state“ im Kalten Krieg und förderte die Gegnerforschung am Russian Institute der Columbia University, wo auch Marcuse unterkam. Dennoch zeigte sich die Praxis der Stiftung als viel liberaler, als der politische Hintergrund vermuten lassen würde. Wissenschaft und nicht Politik stand im Vordergrund. Die Stiftung war an abweichendem Wissen und unkonventionellen Ansichten interessiert. Allerdings wurden unorthodoxe Wissenschaftler, die zu politisch heiklen Fragen arbeiteten, nur dann gefördert, wenn das Netzwerk der Stiftung für sie eintrat. So verdankten Marcuse und seine Kollegen die philanthropische Protektion in den 50er Jahren ihren Kontakten aus dem Geheimdienst.

Doch wie konnten Linksintellektuelle und Marxisten wie Marcuse oder Neumann in der Ära des McCarthyismus vom amerikanischen Establishment gefördert werden? Müller zeichnet die engen Verbindungen nach, die im Kalten Krieg zwischen der Rockefeller Foundation und staatlichen Stellen existierten: Eine Art politisch-philanthropischer Komplex hatte sich formiert. Die Stiftung fühlte sich gleichermaßen dem nationalen Interesse der USA und der Idee einer internationalen Philanthropie verpflichtet. Entsprechend versuchte sie die Balance zwischen beiden Ansprüchen zu wahren. Im Konfliktfall entschied sie sich jedoch in den McCarthy-Jahren zugunsten der nationalen Sicherheit. Die Gründe für dieses Verhalten erkennt Müller sowohl im institutionellen Eigeninteresse der Stiftung als auch in der politisch-ideologischen Wahrnehmung ihrer Mitarbeiter. Als Gelehrter knüpfte Marcuse unmittelbar an die Geheimdienstforschung an. Mit Unterstützung der Rockefeller Foundation wurde er zum Gründervater eines internationalen Netzwerks der Marxismusforschung, das sich auf akademischer Ebene den Fragestellungen der psychologischen Kriegsführung widmete. Die Marxismusforschung der Stiftung trug nach Müllers Urteil wesentlich zu dem Paradigmenwechsel bei, der in den 60er Jahren weite Teile der sowjetologischen Forschung an den Universitäten und auch der öffentlichen Debatte erfasste. Die Resultate des ideologisch weitgefächerten Forschungsverbundes der Stiftung deuteten zudem darauf hin, dass im Ostblock ein Prozess der Liberalisierung eingesetzt hatte. Damit zeigte sich – wie zuvor im Geheimdienst – auch in der Rockefeller-Marxismusforschung, dass linke Gelehrten-Intellektuelle als Experten und Produzenten von abweichendem Wissen eine wichtige Funktion erfüllten.

Möglich machte all dies ein politisches System, das nicht auf Vernichtung oder Unterwerfung des Gegners zielte, sondern auf dessen Eindämmung, auf ein nukleares Gleichgewicht oder auf Ausgleich und Entspannung. Erst dies gewährte der Gegnerforschung die notwendigen intellektuellen Spielräume, wie Müllers brillante Studie über Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg lehrt. Sie sollte schleunigst ins Englische übersetzt werden, damit sie im heutigen Washington viele Leser findet. Denn wie bereits im Kalten Krieg scheint auch im Kampf gegen den Terrorismus das Wissen, das von der offiziellen Linie abweicht, einmal mehr der Schlüssel zum Erfolg zu sein.





– Tim B. Müller:

Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg.

Hamburger Edition, Hamburg 2010. 736 Seiten, 35 Euro.

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