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Überwindung sozialer Gegensätze. Offizieller Rekordversuch im Matratzen-Domino für das Guinness Buch der Rekorde mit insgesamt 1150 Menschen und Matratzen u im hessischen Gründau-Lieblos 2012.

© Frank Rumpenmhorst/ picture alliance / dpa

Gesellschaftlicher Zusammenhalt: Melting Pot Möbelhaus

Rein in den Alltag: Wir müssen Filterblasen auch offline platzen lassen. Ein Gastbeitrag.

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Laura-Kristine Krause ist Geschäftsführerin von More in Common Deutschland, einer Initiative für gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Seit vielen Jahren beschäftige ich mich beruflich damit, wie es um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft bestellt ist. In den letzten Jahren ist diese Gesellschaft vielen Anlass zur Sorge geworden: Sie wird als zerrissen und polarisiert erlebt, mangelndes Vertrauen und Politikverdrossenheit werden beklagt, und über allem steht die bange Frage, ob dies alles die Demokratie gefährdet. So wichtig diese Debatte ist – sie bleibt doch allzu oft abstrakt. Mindestens ebenso wichtig ist eine sehr konkrete Frage: Wo, an welchen Orten findet diese Gesellschaft überhaupt (noch) statt?

Als ich einmal im Rahmen eines Interviews nach einem zu meiner Arbeit thematisch passenden Treffpunkt gefragt wurde, fiel meine Wahl auf ein Möbelhaus. Warum? Weil es einer der Orte ist, wo ein relativ breiter Querschnitt der deutschen Gesellschaft zusammenkommt: Menschen verschiedenster Generationen, Menschen, die erst seit wenigen Tagen in Deutschland sind, ebenso wie jene, die noch nie woanders waren. Hier begegnen sich Menschen, die es privat nicht unbedingt tun würden.

Es ist wichtig, dass verschiedene gesellschaftliche Gruppen nicht einfach nebeneinander herleben, sondern dass sie gerade Menschen begegnen, die anders sind als sie selbst. Dies hat der amerikanische Psychologe Gordon Allport bereits 1954 festgestellt. Er hat den Begriff der „Kontakthypothese“ geprägt und gezeigt, dass persönliche Begegnungen förderlich für den Abbau von Vorurteilen sind, wenn denn die Rahmenbedingungen stimmen. Psychologische Grundreflexe wie der „intergroup bias“, also die Bevorzugung der eigenen gesellschaftlichen Gruppe, werden für unser gesellschaftliches Miteinander zunehmend relevant.

Überschätzung von Differenzen

So wurde in Studien nachgewiesen, dass Menschen eine niedrigere Empathie gegenüber Menschen haben, die anderen gesellschaftlichen Gruppen angehören als sie selbst (beispielsweise gegenüber Geflüchteten). Oder dass sie Menschen einer „anderen“ gesellschaftlichen Gruppe meist generalisierend dieselben Attribute zuschreiben, sie also für sehr ähnlich halten (die Forschung nennt das „outgroup homogeneity“). D

as führt so weit, dass zum Beispiel Demokraten und Republikaner in den USA enorm schlecht darin sind, die Menschen des jeweiligen anderen gesellschaftlichen Lagers einzuschätzen. Sie halten die Gegenseite jeweils für deutlich radikaler in ihren Ansichten, als sie es sind – und überschätzen damit auch ihre Differenzen mit ihnen..

Ein Weg, gegen diese verzerrte Wahrnehmungsmuster anzukämpfen, ist die persönliche Begegnung mit Menschen, die eine andere Perspektive auf Gesellschaft haben als man selbst. Doch davon gibt es in unserem Alltag immer weniger: Wir folgen lieber dem ganz natürlichen Impuls, uns mit Menschen zu umgeben, die uns hinsichtlich Grundüberzeugungen und Werten ähnlich sind.

Der persönliche Kontakt verschiedener gesellschaftlicher Gruppen findet also nicht automatisch statt. Es muss dafür einen Rahmen geben, Orte, an denen das geschieht. Vor diesem Hintergrund rückt das seit Jahrzehnten vernehmbare Lamento über den Niedergang der gesellschaftlichen Großorganisationen noch einmal in ein anderes Licht. Denn Volksparteien, Kirchen und Gewerkschaften waren nicht nur enorm wichtig für die Organisation der politischen Willensbildung.

Austausch und Distanz

Sie alle schufen Anlässe, zu denen unterschiedliche Menschen mit einem gemeinsamen Interesse zusammentreffen konnten, Gottesdienste, Parteitage oder Mitgliedertreffen und Aktionen etwa. Und sie stellten die Orte für diese Treffen zur Verfügung. Zwar existieren diese Institutionen noch, aber sie haben aufgrund sinkender Mitgliederzahlen als Begegnungsorte eine deutlich geringere Bedeutung.

Die Corona-Pandemie hat diese Situation aufgrund der Kontaktbeschränkungen noch einmal verschärft. Gleichzeitig lehrt sie uns viel über die Bedeutung von Begegnung und persönlichem Austausch. Der Kontakt fehlt uns, wir leiden unter der entstehenden Distanz, die auch unsere sonst stabilen persönlichen Netzwerke belastet. Im Umkehrschluss gibt uns dies eine Idee davon, was der Kontakt mit anderen gesellschaftlichen Gruppen, der bisher nicht stattfindet, bei jedem von uns in positivem Sinne auslösen könnte. Daher wünsche ich mir, dass wir gesellschaftliche Orte, die diesen gesellschaftlichen Austausch ermöglichen, wieder stärker suchen.

Dabei schwebt mir besonders die „Aufwertung“ der Alltagsbegegnung vor. Diese kann an Orten stattfinden, die schon spezifisch für die Begegnung „gemacht“ wurden und beispielsweise durch Wohlfahrtsverbände, Nachbarschaftsinitiativen oder Sportvereine gestaltet werden. Diese kann aber auch an Orten geschehen, die ein ganz gewöhnlicher Teil unseres Alltags sind, wie zum Beispiel der Arbeitsplatz, Gastronomie, Kultureinrichtungen oder Geschäfte und Supermärkte.

Gerade an diesen Alltagsorten äußert sich das Wesen einer Gesellschaft. Nicht umsonst sprechen wir von Alltagsrassismus und -sexismus. Ich wünsche mir, dass wir irgendwann auch von „Alltagszusammenhalt“ sprechen und die Stärkung unserer Gesellschaft nicht nur im kuratierten Rahmen oder Format angehen.

Mittelpunkt Mensch in Bibliotheken

Zweitens wünsche ich mir, dass sich die Eigentümer und Betreiber von Alltagsorten stärker bewusst sind, welche Gestaltungsmöglichkeiten sie in ihren Händen halten. Es gibt bereits gute und kreative Beispiele: So haben sich die öffentlichen Bibliotheken, ausgehend von den USA und Skandinavien, in den vergangenen Jahrzehnten in ihrem Selbstverständnis zu Orten gewandelt, an denen nicht mehr das Buch, sondern der Mensch im Mittelpunkt steht.

Ähnliche kreative Ideen wünsche ich mir auch von kommerziellen Räumen. Ich denke da an Gesprächstische in den Restaurants von Möbel- und Kaufhäusern oder an dezidierte „Gesprächsabteile“ in Zügen, ähnlich wie Familienabteile, das Pendant zu Ruhezonen: Diese Abteile wären gezielt für Menschen gedacht, die Lust darauf haben, mit anderen ins Gespräch zu kommen: über die Gesellschaft, über ihre Erfahrungen und ihre Biografien.

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Diese Abteile wären größer als normale Abteile und hätten Platz für sechs bis acht Menschen. Die Gespräche hätten bewusst keine Moderation, aber in diesen Abteilen gäbe es viele kleine Details, die das Gespräch anregen sollten: „Eisbrecherfragen“ für den Gesprächsanfang aufgedruckt auf die Tische, Tipps und Tricks für gute Gespräche und auch immer wieder ein „Thema des Tages“, zum Beispiel Nachbarschaft oder Familie, falls Menschen eine gezieltere Gesprächsanregung wünschen..

Ideen dieser Art würden den Raum, an dem sich Menschen ohnehin mehrere Stunden am Stück aufhalten, auch gezielt für die gesellschaftliche Begegnung nutzbar machen. Auch Parlamente, Ministerien, Parteien könnten durch ein stärkeres Selbstverständnis als gesellschaftlicher Ort einiges an Kreativität freisetzen und Begegnung fördern. Denn die sprichwörtlichen Filterblasen existieren nicht nur in den sozialen Medien, sondern durchaus auch im analogen Leben. Wir sollten uns gemeinsam vornehmen, diese immer mal wieder zum Platzen zu bringen.

Laura-Kristine Krause

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