
© Martina Hellmann/dpa
Roman über den Holocaust: Die Schatten der Toten
Grete Weil erzählt in ihrem 1963 veröffentlichten Roman „Tramhalte Beethovenstraat“ vom Zweiten Weltkrieg in Amsterdam. Nun erscheint eine Neuauflage.
Stand:
Nacht für Nacht die gleichen Geräusche, Nacht für Nacht ein Alptraum, der doch Wirklichkeit ist. Hundegebell, gedämpftes Summen von Stimmen, scharrende Füße, manchmal Weinen oder ein Schrei. „Er machte das Licht aus, lief zum Fenster und riss es auf. Unten standen vier Trambahnen mit je einem Anhänger, dahinter bewegte sich eine dunkle Masse, einige hundert Menschen mussten es sein.“
Uniformierte mit Schäferhunden stehen Wache, halblaut ertönen Kommandos: „Schnell, schnell, schnell. Wagen eins, eins a, zwei, zwei a, drei“.
Die Leute gehorchen, drängen in die Trambahn, „voll Angst, nicht mitzukommen“, stolpern die Trittbretter hinauf. Ein Mann stürzt, die anderen steigen über ihn hinweg, haben es eilig, reinzukommen, einen Sitzplatz zu ergattern. Andreas, der vom Fenster aus zuschaut, wird Zeuge, wie im von den Deutschen besetzten Amsterdam Juden deportiert werden. Er ist tief verstört, fürchtet verrückt zu werden. Aber der Psychiater, den er aufsucht – er heißt Rosenbusch und ist selber mit seiner Familie aus Deutschland geflohen –, versichert: „Sie haben keine Halluzinationen.“
Jede Nacht, mit Ausnahme von Samstag und Sonntag, werden vierhundert Frauen, Männer und Kinder aus ihren Wohnungen geholt, in die Trambahnen verladen, zum Bahnhof gefahren und von dort in ein holländisches Durchgangslager. Es folgt das letzte Kapitel, die Verlegung nach Osten, in die Vernichtungslager.
„Osten, das war das Nichts“, lautet ein Satz, den Grete Weil in ihrem Roman „Tramhalte Beethovenstraat“ mehrmals wiederholt. Ein Mantra der Auslöschung. Ihr Buch kam 1963 heraus, geriet in Vergessenheit und ist nun noch einmal beim Verlag Das kulturelle Gedächtnis erschienen, einem Verlag, der sich auf Wiederentdeckungen spezialisiert hat. Vieles von dem, was Weil erzählt, hat sie selbst erlebt.
Grete Weil tauchte im Herbst 1943 unter
Die Tochter aus einer großbürgerlichen Münchener Familie, Jahrgang 1906, hatte früh mit dem Schreiben begonnen und eine Reise-Erzählung veröffentlicht. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten brach sie die Arbeit an einer Dissertation ab und absolvierte eine Ausbildung zur Porträtfotografin. Mit ihrem Ehemann, dem Dramaturgen Edgar Weil, ging sie 1935 ins Exil nach Amsterdam, wo der Maler Max Beckmann und der Dirigent Bruno Walter zu ihrem Bekanntenkreis gehörten.
Ihr Mann wurde verhaftet und im Konzentrationslager Mauthausen ermordet. Grete Weil selbst tauchte im Herbst 1943 unter, stand im Kontakt mit dem Widerstand und lieferte Fotos für gefälschte Personalausweise.
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Von dieser Geradlinigkeit ist Andreas, der Held von „Tramhalte Beethovenstraat“, weit entfernt. Mit der Ideologie der Nazis will er nichts zu tun haben, ist aber zu träge, um etwas dagegen zu unternehmen. Der Schriftsteller, einst für seine spätexpressionistische Lyrik gefeiert, entgeht dem Kriegsdienst, indem er 1942 als Berichterstatter nach Amsterdam kommt. Er produziert Feuilletons über die Holländer als „Brudervolk“, eine Arbeit, die er verachtet. Den Preis, den er fürs Mitläufertum zahlen musste, war der Eintritt in die Reichsschrifttumskammer.
Die deutschen Besatzer sind den Holländern als „Moffen“ verhasst, und Andreas schämt sich, einer von ihnen zu sein. „Man müsste etwas tun“, denkt er. Als die jüdische Fotografin Sabine, die in seinem Haus ein Atelier betreibt, abgeholt werden soll und bei ihm anklopft, entscheidet er spontan, sie zu verstecken. Später kommt der 17-jährige Daniel dazu, von dessen Melancholie sich Andreas angezogen fühlt. Auf Dauer hält der Junge es in der Wohnung nicht aus, er färbt sich die Haare blond, will nicht mehr „jüdisch“ aussehen, und übernimmt Kurierdienste für den Widerstand. Ein fataler Schritt.
Kleine Komödie in der großen Tragödie
Drei Viertel der niederländischen Jüdinnen und Juden wurden während der Besatzung ermordet, das war die höchste Opfer-Rate aller westeuropäischen Länder. Aber es gab auch Proteste. Nach brutalen Razzien kam es 1941 in Amsterdam und Umgebung zu einem Generalstreik, der als „Februarstreik“ in die Geschichte einging. Im Lauf des Kriegs versteckten sich 25 000 Juden, von denen 9000 aufgespürt wurden. Bei Weil heißt es, dass die Deutschen für jeden verratenen Juden eine Prämie von drei Gulden zahlten.
Als der Hauptmieter der Unterkunft stirbt, droht alles aufzufliegen. Andreas und seine Mitbewohner verschnüren den Toten in einem Teppich und versenken ihn in einer Gracht. Eine Frage bleibt: „Was machen Fische mit Lackschuhen?“. Eine kleine Komödie in der großen Tragödie.
Grete Weil: Tramhalte Beethovenstraat. Roman. Verlag Das Kulturelle Gedächtnis. Berlin 2021.192 Seiten, 22 €
Zwei Zeitstränge sind in „Tramhalte Beethovenstraat“ ineinander verflochten. Nach dem Krieg hat Andreas Daniels Schwester Susanne geheiratet und ist nach München zurückgekehrt, nun entflieht er im Porsche dem Wirtschaftswunder-Deutschland. Ziel: Amsterdam. Man hält ihn noch für einen Schriftsteller, aber er ist nicht mehr fähig, einer zu sein.
Einen Roman bringt er nicht zu Papier, selbst wenn er die Feder in seinen Finger bohrt, bis es blutet. Vierhundert Tote, „ein schwarzer Schatten“, ziehen übers Papier und zerbrechen die Form. Die Schrecken des Holocaust lassen sich nicht in Worte fassen. „Die Zeit des Geschichtenerzählens ist für ihn vorbei“, nun will er Anklage erheben gegen die Mörder.
Andreas’ Wohnung liegt in der Beethovenstraat. Auch Grete Weil hat dort gelebt, ihr Fotostudio gehabt, Hausnummer 48. Aber stärker als in Sabine spiegeln sich ihrer Erfahrungen in der stillen Figur der Susanne. Grete Weil konnte sich 18 Monate verstecken, nachts verkroch sie sich hinter einer Bücherwand. Man muss sofort an Anne Franks Versteck im Hinterhaus der Prinsengracht 263 denken, verborgen hinter einem schwenkbaren Bücherschrank.
Nach der Befreiung hat Weil wieder geheiratet, ihren Jugendfreund Walter Jokisch, mit ihm ist sie nach Darmstadt gezogen, wo er als Opernregisseur arbeitete. Später lebte sie – wie Susanne und Andreas – in Grünwald bei München. Dort ist sie 1999 gestorben. Ihr Überleben verstand sie als Auftrag, gegen das Vergessen anzuschreiben. Denn: „Vergessen tötet die Toten noch einmal.“
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