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Placido Domingo (Mitte) im Juni 2018 mit dem Intendanten der Staatsoper Unter den Linden, Matthias Schulz (links) und Daniel Barenboim, bei einer Pressekonferenz zu "Staatsoper für alle".

© Petersen/dpa

Update

#MeToo-Debatte: Schwere Vorwürfe gegen Placido Domingo

Grabschen, drohen, nächtliche Anrufe: Neun Frauen erheben schwere Vorwürfe gegen den Opernstar. Der behauptet, er habe nur die besten Absichten gehabt.

Er ist einer der größten Klassikstars aller Zeiten. Seit mehr als einem halben Jahrhundert steht Placido Domingo auf den Bühnen der Welt, er hat über 150 verschiedene Opernrollen in über 4000 Aufführungen gesungen. Seit er aus Altersgründen in seinem angestammten Stimmfach Tenor nicht mehr singen kann, erarbeitet er sich mit bewundernswürdiger Energie die großen Baritonrollen der Musiktheatergeschichte. Der 78-Jährige ist außerdem als Dirigent tätig – 2018 leitete er mehrere „Walküre“-Aufführungen bei den Bayreuther Festspielen. In den USA leitete Domingo die Oper in Washington DC und amtiert noch immer als Intendant in Los Angeles.

Jetzt aber sieht sich der spanische Künstler mit schweren Vorwürfen konfrontiert. Die Nachrichtenagentur AP hat eine umfangreiche Recherche veröffentlicht, in der neun Frauen erklärten, Placido Domingo habe sie bedrängt und mit dem Entzug von Rollenbesetzungen gedroht, für den Fall, dass er zurückgewiesen werde. Sechs weitere erklärten, sie hätten sich unwohl geführt durch Domingos Verhalten. Drei Dutzend Mitarbeiter von Opernhäusern bestätigten darüber hinaus AP, dass sie Zeuge eines unangemessenen Verhaltens des Sängers gegenüber Frauen gewesen sind.

Domingo wehrt sich

Dass Domingo ein Schürzenjäger ist, so sagen einige der Befragten, sei allerdings ein offenes Geheimnis in Klassikkreisen gewesen. Vielfach wurde jungen Sängerinnen von Kolleginnen und Kollegen darum geraten, sich nie alleine in einem Raum mit Domingo aufzuhalten. Die Vorwürfe reichen bis zu drei Jahrzehnte zurück. An der Berliner Staatsoper, wo Domingo in den vergangenen Jahre wiederholt mit Daniel Barenboim zusammengearbeitet hat, war wegen der Theaterferien keine Stellungnahme zu bekommen.

Seit 1962 ist Domingo verheiratet, seine Frau Marta ist selbst ausgebildete Sängerin, hat ihre Karriere ihm zuliebe aber aufgegeben. Sehr eifersüchtig sei sie nicht, findet der Ehemann: „Sie hat keine Probleme damit, wenn eine schöne Frau auf mich zukommt und mir ein Kompliment macht. Sie kann es allerdings nicht ausstehen, wenn sich die Dame versteckt, sobald sie auftaucht. Das macht sie richtig wütend.“

Placido Domingo wollte auf konkrete Fragen von AP nicht antworten, schickte aber eine Erklärung an die Nachrichtenagentur, in der er sich gegen die Vorwürfe wehrt, er habe sich in unangemessener Weise den jungen Frauen genähert. Er betonte, dass all seine Beziehungen einvernehmlich gewesen seien. „Es schmerzt mich zu hören, dass ich jemandem unangenehme Gefühle bereitet habe, egal, wie lange es her ist und ob meine Absichten nur die Besten waren“, schreibt er. Des Weiteren räumt er ein, dass Verhaltensweisen, die in der Vergangenheit toleriert, also lediglich als Kavaliersdelikte eingestuft wurden, in Zeiten der Metoo-Bewegung mittlerweile als unangemessen gewertet werden. Und das sei gut so.

Anonyme Vorwürfe

Ungebetene Besuche in der Garderobe, mehr als freundschaftliche Umarmungen, Küsse auf den Mund, auch wenn sein Gegenüber ihm nur die Wange angeboten hat, wiederholte nächtliche Telefonanrufe, insistierende Einladungen zum Dinner. Die Liste der Avancen, die AP in der Recherche offenlegt, ist lang. Bis auf eine einzige Befragte allerdings wollten sich alle betroffenen Frauen nur anonym äußern. Nur die Mezzosopranistin Patricia Wulf taucht in dem Bericht mit Klarnamen auf.

Seit Jahrzehnten ist Placido Domingo es gewohnt, dass ihm überall, wo er auftaucht, Applaus entgegenbrandet. Darüber ist ihm im Privaten wohl das Gespür dafür abhanden gekommen, dass es auch Frauen geben könnte, die sich ihm nicht zu Füßen werfen mögen.

Künstlerisch ist er ein Phänomen. Wie er sich über die Zeit seine unverwechselbare Mischung aus südlich-sonnigem Timbre und maskuliner Kernigkeit bewahren konnte, bleibt rätselhaft. Ebenso wie sein genaues Alter. In manchen Lexika wird 1934 als Geburtsjahr angegeben. Damit wäre er jetzt bereits 85.

Ein Kind des Theaters

Domingo konnte stets heroisch klingen, ohne teutonisch zu dröhnen, er formt seine Gesangslinien mit Delikatesse, ohne ins Manirierte zu verfallen. Anders als bei seinem gewichtigsten Konkurrenten Pavarotti war ihm die Tenor-Tessitura nicht in die Wiege gelegt. Seine Naturstimme ist die eines hohen Baritons, jeden Ton darüber hinaus hat er sich erkämpft, hat die Fülle, die Glut seiner Mittellage kontinuierlich nach oben hin ausgeweitet. Und dann mit kopfgesteuerter Stimmbandkontrolle gesichert, dass er über Jahrzehnte unter emotionalem Hochdruck singen konnte, ohne sich seine Arbeitswerkzeuge zu ruinieren.

Legendär ist sein Auftritt 1981 in Puccinis „Tosca“ vor 250000 Zuhörern im New Yorker Central Park. Mit Pavarotti und Carreras erfand er die „Drei Tenöre“- Stadion-Klassik. „Wo es keine Menschenmenge gibt, wird Domingo bestrebt sein, eine zu verursachen“, schreibt sein Biograf Daniel Snowman, „wo es eine gibt, wird er mit Sicherheit ihr Mittelpunkt sein“. Placido Domingo ist eben ein Kind des Theaters. Seit frühester Jugend hat er in der Zarzuela-Operettentruppe seiner Eltern mitgewirkt und dabei gelernt, mit welchen Tricks man das Publikum begeistert. „Wenn ich anfange, mich selber langweilig zu finden“, hat Placido Domingo 2004 erklärt, „dann werde ich abtreten“. Dieser Punkt scheint noch lange nicht erreicht.

Emotional verantwortlich

Auf der Bühne wie auch im Konzert ist Placido Domingo ein Darsteller von unwiderstehlichem Charme. Hinter den Kulissen aber, das wird bei der Lektüre der Vorwürfe klar, kann er offenbar auch ein Mann von widerlichem Charme sein. Einer, der an Mozarts Opernfigur des "Don Giovanni" erinnert: ein krankhafter Verführer, der behauptet, die erotische Erregung zum Leben zu brauchen. Eine Sängerin berichtet davon, dass er ihr erklärt habe, er sei abergläubisch und müsse zur Entspannung seiner Nerven darum vor jeder Aufführung mit einer Frau zusammen gewesen sein. „Ich singe dann besser“, wird Domingo von der Zeugin zitiert.

In der Mehrzahl handelt es sich bei den von AP aufgelisteten Fällen um die Erlebnisse junger Frauen, die noch ganz am Anfang ihrer Karriere standen und entsprechend befürchteten, ein „Nein“ gegenüber dem einflussreichen Star könne ihrer Karriere schaden. Und in der Tat berichten mehrere Betroffene, die sich Placido Domingos Zudringlichkeiten verweigerten, dass sie anschließend für keine Konzerte oder Opernproduktionen mehr engagiert worden seien, an der auch der Star beteiligt war.

Es gibt aber in der AP-Recherche auch den Fall einer Sängerin, die sich im Zenit ihrer Bekanntheit befand, als sie 2002 mit Domingo an der New Yorker Met zusammenarbeitete – und dabei unangenehme Erfahrungen machte. Domingo sei ihr Idol gewesen, sagt sie. Er hatte sie dazu inspiriert, das Singen zum Beruf zu machen, ein Auftritt mit ihm sei stets ein Traum gewesen, berichtet die Frau. Als ihr Placido Domingo dann zum Abschied einen „nassen, schleimigen Kuss“ auf den Mund gegeben habe, obwohl sie ihm nur die Wange angeboten hatte, sei damit der Held ihrer Jugend gestorben. Dennoch wolle sie ihn mit ihrer Aussage nicht bestrafen. AP zitiert sie mit den Worten: „Ich will, dass ihm klar wird, für welche Schäden er – emotional, psychologisch, beruflich oder anderweitig – verantwortlich ist.“

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