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Michel de Montaigne: Der Aufrichtigkeitssimulant
Volker Reinhardt porträtiert den Begründer der essayistischen Form als einen Philosophen in Zeiten des Krieges.
Stand:
Ein unerwartet naher Krieg, religiöser Fanatismus, ein taktischer Umgang mit der Wahrheit und unverhohlen partikulare Interessenskämpfe – all diese Erfahrungen machen ihn zu einem Mann der Stunde. Dabei liegt die Zeit des Philosophen Michel de Montaigne (1533 – 1592) ein halbes Jahrtausend zurück. Inmitten französischer Glaubenskriege zwischen Katholiken und Calvinisten begründeten seine 1580 in einer ersten Fassung erschienenen „Essais“ - wörtlich: Versuche – eine bis heute höchst anspruchsvolle literarisch-philosophische Gattung.
In ihrem Nachsinnen über das Alltagsleben zeigen sie ein Individuum, das sich ganz auf Aufrichtigkeit und kritische Toleranz, das eigene soziale Gewissen und selbstdenkerische Gelassenheit gestellt sieht. Kein Wunder, dass sie vielen als Schatz lebensweiser Sentenzen gelten. Kein Wunder auch, dass es seit der ersten deutschen Gesamtübersetzung 1753 immer neue Übersetzungen gegeben hat, die letzte von Hans Stilett 1998. Kein Wunder schließlich, dass der Vatikan Montaigne 1676 auf den Index setzte.
Der im Schweizer Fribourg lehrende Historiker Volker Reinhardt entwirft nun in seinem beeindruckenden Buch „Montaigne – Philosophie in Zeiten des Krieges“ ein Porträt dieses in jeder Hinsicht ungewöhnlichen Denkers. Schon den Zeitgenossen war aufgefallen, dass der seine biedere Aufrichtigkeit Beteuernde den mit Handel erworbenen niederen Adel seiner Familie namens Eyquem trickreich zu de Montaigne nobilitierte und seine öffentliche Tätigkeit stark aufwertete.
Aus dem eigenen Leben ein Vorbild gewinnen
Auch sonst fand man allerlei Widersprüche. Reinhardt geht ihnen nach und rekonstruiert aus vielerlei Quellen und fundierter Kenntnis die tatsächliche Biografie Montaignes, indem er zugleich ausführlich auf die historischen Verhältnisse eingeht. Dabei arbeitet er die Rolle und Funktion der „Essais“ darin aus: nämlich aus dem eigenen, ständig gefährdeten Leben ein exemplarisch den Verhältnissen angemessenes, sowohl die Zeitgenossen als auch spätere Leser zur Einsicht anleitendes Vorbild zu gewinnen.
Reinhardt liest die „Essais“ somit als „ein hoch konzentriertes, hoch politisches und daher äußerst ‚engagiertes‘ Buch, das nicht nur die Ursachen der mörderischen Konflikte ergründen, sondern diese auch beheben helfen möchte, das also nicht nur verstehen, sondern auch und vor allem verändern will.“
So sieht denn also sein Montaigne aus: All die kuriosen Anekdoten, Szenen und Begebenheiten, an denen Fragen der Lebensführung verhandelt werden - Freundschaft, Ehe, Erziehung, Takt, Geselligkeit und Genüsse -, alle so offenherzig ausgestellten Fehlbarkeiten und Marotten sind tatsächlich Elemente immer neuer Aufrichtigkeitssimulationen. Mit dem Ziel, die Leser über sich und ihre Verhältnisse nachdenken zu lassen. Wobei er in der Mischung aus Selbstrelativierung und Zerlegung tradierter Klassiker oder zeitgenössischer Positionen die Leser ins Labyrinth seiner Texte lockt.
Grundmuster Misogynie
Er lenkt so den Blick auf das, was er „Natur“ nennt, auf die je vorausliegenden Gegebenheiten des Daseins. Und da zeitgenössisch, wenn überhaupt, nur der Adel sein Adressat sein konnte, suggeriert er diesem an der geschönten Eigenbiografie die Bedeutung von Dauer, Diplomatie, Hausväterlichkeit und gesellschaftlicher Verantwortung. Die in diesem Sinne wenig standesgemäße Mutter bleibt außen vor, ähnlich die Ehefrau. Überhaupt gehört eine Portion Misogynie zum Grundmuster.
Umso hymnischer wird der Vater präsentiert, dem der Sohn eine exzellente Bildung in Latein und Griechisch verdankt. Auch dies für Reinhardt Stilisierung. Wiewohl zu jung und ohne juristische Ausbildung, bekam Montaigne seinen ersten Job am obersten Steuergerichtshof der Provinz durch Tricks und Geldaufwendungen der Familie.
Seine berufliche Leistungsbilanz blieb mager; er gewann aber Reputation als Autor wie als diplomatischer Vermittler. Zwischen den streitenden Konfessionen zog er sich auf eine Position der Skepsis zurück - in stiller Anpassung an die Gegebenheiten. Aus der heraus schrieb er seine „Essais“, in denen er sich und prospektive Leser trainierte, die je andere Seite in den Blick zu nehmen. „Wenn ich mit meiner Katze spiele, wer weiß, ob sie sich nicht mehr Zeit mit mir vertreibt als ich mit ihr?“ So auch sein vielleicht gewichtigstes Stück, seine Reflexionen über die sogenannten Kannibalen, die diese am Ende humaner dastehen lassen als ihre Kolonisatoren.
Nach der ersten Auflage ging er tatsächlich in die Praxis, wurde Bürgermeister von Bordeaux und gegen einige Widerstände wiedergewählt. Zwar hatte er wenig politische Macht, umso mehr setzte er auf seine Fähigkeiten zu verhandeln und zu vermitteln. Diese Erfahrungen, wie die der Pest und einer vorübergehenden Gefangennahme, gingen in die erweiterte Neuausgabe der „Essais“ 1588 ein, nun noch stärker geprägt durch Selbstdarstellung, aber auch Gefühle der Verwundbarkeit und Schutzlosigkeit. Diese Ausgabe hatte dann eine breite, anhaltende Wirkung. Auch auf Heinrich IV. Mit dessen Toleranzedikt von 1598, schreibt Reinhardt, habe Montaignes Werk „gewissermaßen staatstragenden Charakter“ gewonnen. Ein Jahrhundert später war auch das vorbei.
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