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Welt ohne Maß? Biochemikerin im Einsatz.

© imago/Westend61

Kritik der Moderne: Mit kurzer Elle kann man viel messen

"Welt ohne Maß": Der Philosoph Ralf Konersmann klagt über die Herrschaft des rein Quantitativen.

Kultur- und Ideengeschichte widmen sich nur vordergründig der Vergangenheit. Mindestens ebenso wie für die Entwicklungen, die sie nachzeichnen, interessieren sich diese Disziplinen für die Gegenwart, dafür, wie sie so werden konnte, wie sie nun ist. Oft sind diese Geschichten motiviert durch eine reklamierte Krise ihrer Gegenstände, die nicht selten – ihre Autoren sind keine bescheidenen Denker – auf eine Krise der Gegenwart schlechthin deutet.

Auch der 1955 geborene Philosoph Ralf Konersmann ist hier keine Ausnahme. „Welt ohne Maß“ lautet der Titel seines neuen Buchs, der in seiner Unüberbietbarkeit im Maximalen („Welt“) wie im Nichtigen („ohne Maß“) selbst in gewisser Weise ausdrückt, was der Autor bedauert: eben den Verlust des Maßes, an dessen Stelle das Messen getreten sei. Es lohnt, hier nicht vorschnell Wortklauberei zu unterstellen. Denn folgt man Konersmann, ist dieser Paradigmenwechsel in seinen Auswirkungen nicht zu unterschätzen, er könnte sogar den Weg des Menschen vom Paradies bis in die apokalyptischen Szenarien einer nahen Zukunft nachzeichnen.

Konersmanns Genealogie beginnt bei den alten Griechen. Das antike Maß bezeichne die Erfahrung, „dass die Beschaffenheit der Dinge, einschließlich der Art ihres Gegebenseins und der Umgang mit ihnen ineinandergreifen.“ In diesem harmonischen Gefüge fand alles und jeder seinen Platz. Das Maß wurde nicht von Menschen ausgehandelt, sondern war immer schon da, garantiert vom Kosmos. Es bezeichnete ein unhinterfragbares Verhältnis zu den Dingen, das sittlich genannt werden darf, ohne dabei den Einzelnen moralisch zu überfordern. Nicht das Gute, eben kein Ideal, keine Großartigkeit, sondern das Angemessene ist hier die Maxime eines gelungenen Lebens in einer Umwelt, die dem Menschen grundsätzlich zugeneigt ist, ihn umfängt und bedeutet, wie er sich in ihr zu verhalten hat.

Vornehmer Schreibstil

Reste dieses Weltverhältnisses spürt Konersmann noch heute auf, etwa in der schönen Wendung „gemessenen Schrittes“ zu gehen: „Wer in gewissen Augenblicken gemessenen Schrittes geht, hält nicht lediglich abstrakte Vorschriften und Regeln ein, die ihm sagen, was sich gehört und in diesem Augenblick zu tun ist; eine solche Person fädelt sich zwanglos ein, zeigt sich als Teil des Geschehens und gestaltet es allein durch die Art, wie sie geht, an ihrer Stelle mit.“ Es sei hier angemerkt, dass Konersmann selbst sich sprachlich ganz der Angemessenheit verpflichtet. Er pflegt einen so gewandten wie vornehmen Schreibstil, dass man mitunter fast vergisst, dass es sich bei seinem Buch um nicht weniger als eine Generalkritik an der Moderne handelt.

Denn das Maß verblieb nicht beim Kosmos, die Menschen delegierten es an einen Gott, wohlwissend, dass sie selbst zu schwach wären, es zu garantieren. Horaz erklärte „Es gibt ein Maß in allen Dingen“, die Bibel entgegnete, Gott habe „alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet“. Damit war die Welt nicht mehr von sich aus wohlgeordnet, sondern ein ihr äußerliches Wesen zeichnete verantwortlich. Der Mensch eiferte diesem Schöpfer bald darauf nach, womit der von Konersmann beklagte Verfall begann. Das Messen, die Berechnung und Quantifizierung setzte sich gegen die Sittlichkeit durch, die Entfremdung nahm ihren Lauf. Das antike Maß bereitete den Menachen noch eine Heimat in der Welt, der Siegeszug des Messens hingegen trennte ihn von seiner Umgebung, ließ ihn zwischen Subjekt und Objekt unterscheiden, um Letzteres genau zu untersuchen, zu skelettieren und zu taxieren.

Der Schöpfer ließ den Renaissancemenschen und seine Nachfolger gewähren, Francis Bacon (1561-1626), ein Wegbereiter der Empirie, legitimierte die quantitative Wissenschaft, lege man doch mit den Geheimnissen der Natur nur den göttlichen Bauplan frei. Konersmann mutmaßt hinter dem Versprechen einer Berechnung der Welt religiöse Reste, die bis in die Gegenwart wirkten, als sei der Glaube an die höchsten Gaben „Maß, Zahl und Gewicht“ aller Säkularisierung zum Trotz weiterhin aktiv.

Prozeduren des Vergleichs

Einer Wahrheit, zumal einer göttlichen, werde man jedoch so nicht habhaft, lebe das quantifizierte Maß doch vom Vergleich, das sich seiner inneren Logik folgend nicht für die Dinge, wie sie eigentlich sind, interessiert, sondern nur für einen Aspekt an ihnen, der in Relation zu anderen gebracht werden kann. „Einmal der Prozedur des Vergleichs unterworfen, wird alles Einzelne zum Besonderen eines Allgemeinen, zu einem Fall, der eine Regel bestätigt – darüber hinaus gilt es nichts.“

Hier spricht aus dem emeritierten Professor vielleicht auch ein wenig der gekränkte Stolz eines Philosophen, der den Naturwissenschaftlern ihren Status als Überbringer zweifelsfreier Fakten missgönnt. Sie dürften der Kritik im Übrigen gelassen begegnen, hat die Wissenschaft doch den Anspruch auf Wahrhaftigkeit längst aufgegeben. Ob es Atome oder Quanten im ontologischen Sinne „wirklich“ gibt, ist den Physikern unserer Epoche gleichgültig, es genügt ihnen, wenn ihre Modelle solide Berechnungen ermöglichen.

Konersmanns Buch beschränkt sich aber nicht auf eine Kritik von Zahlen und Formeln, er beklagt ihre hegemonialen Status in der Kultur, der alles der quantitativen Bestimmung unterwerfe, aus Sinn werde Funktion, aus Freude Motivation, aus Klugheit Intelligenz, spöttisch bemerkt er, sogar das Glück sei heute messbar. Mitunter lässt er sich von seiner Kritik an der Moderne zu gewagten Thesen hinreißen. So etwa, wenn er die Französische Revolution als Einschnitt darstellt, an dem das Maß seiner Fraglosigkeit beraubt worden sei.

Man man den Terror der Jakobiner als Zeugnis der Maßlosigkeit verstehen, die Revolution so einseitig darzustellen, bedeutet im Unkehrschluss aber auch, dem vorrevolutionären Absolutismus ein Maß zuzuschreiben, das nicht weniger treffend als repressive Hierarchie zu bezeichnen wäre. Auch kassiert Konersmann hier die emanzipatorische Energie, die der Epochenbruch freisetzte.

Ohnehin bleibt unklar, wie Konersmann denn zu all den Errungenschaften des von ihm diagnostizierten Paradigmenwechsels steht. Die über Wahlen organisierte Demokratie dürfte ohne den Glauben an die Quantifizierbarkeit politischer Willensbildung nicht zu haben sein. Auch die meisten technologischen, medizinischen und landwirtschaftlichen Fortschritte der letzten Jahrhunderte wären nicht denkbar.

Zeitalter der Extreme

Die Moderne, dieses Zeitalter der Extreme, hat nicht nur das Maschinengewehr hervorgebracht, sondern auch das Penicillin und die Narkose. Konersmann stellt zwar eindrücklich dar, dass eine Welt mit Maß eine völlig andere wäre. Was er aber nicht erwähnt oder gelten lässt, ist, dass es gute Gründe geben könnte, die gegebene trotzdem zu bevorzugen.

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Als Beitrag zur Diskussion um eine akut notwendige Transformation eignet sich der Band daher nur bedingt, obwohl er im Subtext ökologische, wirtschaftliche und politische Denkanstöße formuliert. Selbst Postwachstumstheoretiker rechnen, wenn auch mit negativen Vorzeichen. Eine Rückkehr zum Maß ist kaum vorstellbar. Es dürfte leichter sein, den Klimawandel aufzuhalten und das, wenn auch nur linkisch in Zahlen bemessene, Glück des Menschen, zu mehren, als sein Bewusstsein heim in den Kosmos zu führen. Und doch ist das Buch nicht nur ein Abgesang, es bietet auch Zuversicht.

Es lädt ein, die Beschaffenheit der Gegenwart als nicht zwangsläufig zu begreifen, ihr neu und mit dem Wissen zu begegnen, sie gestalten und verändern zu können. Und sei es vorläufig nur dadurch, bei Gelegenheit „gemessenen Schrittes“ zu gehen. Michael Wolf

Michael Wolf

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