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Kultur: "Möwe": Bitterer Vogel Jugend

Und nächsten Sommer, ganz zum Schluss, kommt dann noch "König Lear". Thomas Langhoff greift auf seinem langen Abschied vom Deutschen Theater nach den Riesengebirgen der Weltliteratur.

Und nächsten Sommer, ganz zum Schluss, kommt dann noch "König Lear". Thomas Langhoff greift auf seinem langen Abschied vom Deutschen Theater nach den Riesengebirgen der Weltliteratur. Shakespeare und Tschechow. Doch geht es dem zuletzt so unglücklichen, im Grunde bescheidenen Theatermann nicht um die schiere Größe. Langhoff hat sprechende Schluss-Stücke gewählt. Unmissverständliche Metaphern, Menetekel. Lear teilt sein Reich auf, alles geht vor die Hunde. Und "Die Möwe" ist eine erbarmungslose backstage comedy, in der sich alles um die existenzielle Frage dreht - welches Theater soll man spielen?

Die Komödie vor der Tragödie, aber wer will das auseinander halten! Anton Tschechows "Möwe", um das Jahr 1895 entstanden, in einer Zeit der künstlerischen Umwälzungen, steckt voller traurig-schöner Anekdoten vom Theater. Langhoff muss diese Dinge nicht forcieren. Das, worauf es ihm ankommt, versteht sich von selbst, hier und jetzt: Diese russischen Müßiggänger und Abstiegskandidaten, die Sommerfrischler, denen Herz und Mut winterlich erfroren sind, reflektieren die Verhältnisse am DT.

Das geschieht meist auf subtile und manchmal auch brutale Art und Weise. Es hat etwas von öffentlicher Selbstkritik. Und es hat Größe und Komik. Wie die Arkadina, die berühmte Schauspielerin, so plötzlich aufschreit und sich erregt, sie habe aber wirklich nie in schlechten, schäbigen Stücken gespielt, niemals. Wie Trigorin, ihr Geliebter, in einem Anfall von Selbstmitleid seinen eigenen Epitaph in die Luft meißelt: "Hier liegt Trigorin. War ein guter Schriftsteller. Aber nicht so gut wie Turgenjew." Wie Sorin, der Bruder der Arkadina, auf sein Leben zurückschaut und schnarrend sinniert, er habe sich immer eine schöne Stimme gewünscht ...

Die Atmosphäre ist lastend, schwer. Da stehen einsame Mimen, Einzelkämpfer, die miteinander nicht mehr viel anzufangen wissen. "Glänzende Begabungen sind heute selten, dafür ist der Durchschnittsschauspieler im Niveau sehr gestiegen" - der Satz des Landarztes Dorn bringt einen Lacher, gleichsam wider besseres Wissen. Langhoffs Inszenierung findet in Dieter Manns Dorn ihr Zentrum. Dieter Mann, eine Stütze der alten, einst hochgelobten DT-Gesellschaft, gibt nicht den verständnisvollen, bei allem Zynismus noch warmherzigen, klassischen Tschechow-Doktor, sondern einen harten, schmallippigen Kommentator. Dorns Stimme zerschneidet das letzte sentimentale Band, das diese Theatermenschen noch zusammenhält.

Es ist nur zu verständlich, dass der Abschied Kräfte freisetzt und Klärung bringt. Dagmar Manzel hat man sehr lange nicht mehr in einer ihr gemäßen Rolle gesehen. Dagmar Manzels Arkadina, elegant, charmant, zieht sämtliche Gefühlsregister - die arrogante Theaterkönigin, die verzweifelt Liebende, die zärtliche Mama und die Rabenmutter, das Scheusal. Jörg Gudzuhn, früher oft ein nicht aufzuhaltender Rampenspieler, gibt seinem Trigorin einen muffligen, zerknautschten, kauzigen Charakter. Er ist angezogen wie ein Geck (Kostüme: Joachim Herzog), ein Künstler, dessen bäuerliche Herkunft durchschlägt, ein komischer Vogel. Anrührend Christian Grashof als Sorin: Er spielt einen Senilen, Todkranken mit gelegentlichen Wutanfällen, die ein Aufbegehren sind gegen den allgemeinen Defätismus. Ulrike Krumbiegels finstere Mascha haut in dieselbe Kerbe. Sie rennt gegen Wände, wirft sich auf den Boden, findet buchstäblich nie Halt, bei keinem Menschen, in keiner Phantasievorstellung. Langhoff schenkt ihr viel Aufmerksamkeit. Aber sie ist schon rettungslos verloren.

Langhoff lässt russische Lieder singen, er spielt träumerische Klavierakkorde ein, setzt die Regenmaschine in Gang, wenn er "Stimmung" braucht. Das wirkt hölzern und ungeschickt. Möwengekreisch im Zuschauerraum, ehe das Spiel, das End-Spiel beginnt: als wären es die Hitchcock-"Vögel", die wie eine himmlische Strafe über das Deutsche Theater kommen. Wenn sie dann aber so beieinander hocken, die müden Krieger, auf der langen Bank, am runden Tisch, da mag sich Tschechows Poesie entfalten. Galgenhumor: "Ich denke nie an das Alter oder den Tod. Dem Unvermeidlichen entgeht man nicht", verkündet die Arkadina. Wieder ein Lacher. Das Publikum spürt, was gespielt wird. Den Ernst der Lage - und die Ironie. Es wird am Ende, nach drei Stunden, demonstrativ Beifall klatschen. Für Thomas Langhoff und seine Protagonisten, das alte Ost-Ensemble, das keine gemeinsame Zukunft mehr hat.

Es herrscht Abbruchstimmung. Nach einem Streit mit seinem langjährigen Bühnenbildner Pieter Hein spielt Thomas Langhoff auf der steilen Schräge einer leergeräumten Bretterbühne. Ein offener Raum, das tut der "Möwe" gut. Tschechows universales Provinz-Theater lebt - wie Theater überhaupt - vom Konflikt der Generationen. In dieser Frage muss Langhoff hier - wie im wirklichen Theaterleben - passen. Seine jungen Schauspieler bleiben erschreckend blass. Roman S. Pauls als Trepljew: der Dichter der "neuen Formen", der hitzköpfige, todunglückliche Sohn der Arkadina, stapft wie ein steifer Gymnasiast durch die Hölle der Alten. Claudia Hübbeckers Nina, das Mädchen, das sich die "Möwe" nennt, ist ein aufgeregter Backfisch vom Land. Die Jugend hat kein Feuer. Sie hat keine Chance. Und sie nutzt sie auch nicht. Ninas und Trepljews experimentelle "Urauführung" im ersten Akt behandelt Langhoff mit desinteressierter Toleranz; zu wenig für einen Regisseur, der so viel Erfahrung mit Tschechow hat.

Spiegel der Realitäten: Das Deutsche Theater hat den Anschluss verloren. Nach dem Abgang von Thomas Ostermeiers jungem Baracken-Team erlebte Langhoff das Scheitern des Abenteuers "neue Kammerspiele". Im Programmheft findet man den Satz von Tschechow: "Schließlich und endlich: Keine Literatur kann in puncto Zynismus das wirkliche Leben übertreffen." Wer will da widersprechen! Möwen allüberall. Luc Bondy in Wien, Stefan Pucher in Hamburg, Katharina Thalbach am Berliner Maxim Gorki Theater - alle jagen den süßen Theatervogel. Es gibt derzeit wunderbare, wunderliche "Möwe"-Inszenierungen von unterschiedlichster Qualität. Aber keine, die so ehrlich ist und zugleich so befangen.

Rüdiger Schaper

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