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Linn Reusse zeigt als Laura choreografisches Talent.

© Arno Declair

"Die Glasmenagerie" am Deutschen Theater Berlin: Mutter braucht einen Mann

Deutsches Theater: Stephan Kimmig inszeniert Tennessee Williams’ „Glasmenagerie“ als Farce.

Sie solle sich frisch halten, ermahnt Amanda Wingfield ihre Tochter Laura, die im Schlabberlook am Frühstückstisch sitzt und verschreckt durch ihre flaschenbodendicken Hornbrillengläser guckt. „Appetitlich“ bleiben für die „Verehrer“, präzisiert Amanda und rattert einen Katalog eigener verpasster Versorgungsehe- chancen herunter.

Das Problem ist freilich, dass Laura gar keine Verehrer hat. Während das Hornbrillenkind mit seiner eskapistischen Neigung eigentlich ganz gut klarzukommen scheint (und heutzutage beste Aussichten auf eine Nerd-Karriere hätte), propagiert ihre Mutter ein Frauenbild, das man bestenfalls noch im innersten AfD-Circle antrifft: Kinder, Küche, Konversation. Klar: Tennessee Williams’ „Glasmenagerie“ ist 72 Jahre alt. Was also fängt man im ausgehenden Jahr 2016 damit an? Der Regisseur Stephan Kimmig überrascht dahingehend, dass er diese Frage zwar nicht recht beantworten kann, das Stück aber trotzdem mit Grandezza auf die große Bühne des Deutschen Theaters bringt.

Katja Haß hat den Wingfields eine düstere Kombi-Bude aus Fabrik und Wohnhöhle gebaut, deren seitlicher Nähmaschinen-Parcours einerseits gestrigen Industrieproletariercharme verströmt, andererseits womöglich heutige Sweatshop-Assoziationen wecken will. Das legen zumindest Programmheftbeiträge über die gegenwärtigen „Abgehängten“ nahe.

Zwischen Einfühlung und Ironie

Ähnlich unkonkret wie zwischen Gestern und Heute hüpft der knappe Dreistünder zwischen Einfühlung und Ironie, Tragödie und Komödie hin und her. Was – je nach individuellem Humorempfinden – von Unterhaltungswert sein kann. Bei der Premieren war die Stimmung jedenfalls ausgesprochen heiter. Die Tatsache, dass die Schauspieler jeweils sehr eigene Strategien entwickeln, um ihre Figuren einerseits im textgetreu muffigen Rollenbild zu verorten, andererseits aber auch irgendwie händeringend aus dem Mottenkistenverdacht zu befreien, erhöht den Trefferquotienten.

Anja Schneider – als ehemalige Gorki- Protagonistin bei Armin Petras weithin Berlin-beliebt und neu im DT-Ensemble – spendiert ihrer Amanda zum Beispiel ein sattes ADS: Dass sie hyperaktiv zwischen Küche und Esstisch hin- und herhibbelt, während sie mit trockenem Anja-Schneider-Humor den kleinen Frischhalte- Knigge für die Tochter zum Besten gibt, entschärft die Sache deutlich in Richtung Farce. Was die plötzlichen Depressionseinbrüche der „Abgehängten“ freilich umso überraschender wirken lässt.

Mit bodenständiger Würde

Marcel Kohler als ihr Sohn Tom, der mit seinem Fabrikjob die Kleinfamilie ernährt, von einer Schriftstellerkarriere träumt und betontermaßen seinem Vater ähnelt, der Frau und Kinder schnöde verlassen hat, trägt die (inzestuöse) Übergriffigkeit seiner Mutter mit bodenständiger Würde. Und Laura? Während die bei Williams an einer „Behinderung“ in Form eines verkürzten Beines leidet und heimlich dem Schreibmaschinenkurs fernbleibt, tut Kimmigs Hornbrillenträgerin im DT möglicherweise gar nicht schlecht daran, das Wirtschaftscollege zu schmeißen. So gekonnt ungekonnt jedenfalls, wie Linn Reusses Laura im DT imaginäre Popstar-Choreografien nachhampelt und leibhaftige Hühner choreografiert, bestehen berechtigte Chancen auf eine Karriere als Hintergrundtänzerin bei Lady Gaga. Das Drama ist lediglich, dass das hier offenbar niemand merkt.

Vollends lustig wird’s, wenn nach der Pause Jim O’Connor auftritt, der mit Laura verkuppelt werden soll. Dann schlägt die Stunde des Komödianten Holger Stockhaus, der mit bewährter Körperkomik, einer furiosen Saxofonisten-Pantomime und verbalem Kaugummi-Nonsens Laura in puncto Nerd-Neigung in nichts nachsteht. Das bei Williams durchaus im Raum stehende Thema sexueller Gewalt spart Kimmig zugunsten der Comedy aus – und stellt zumindest in einem Punkt ausgleichende Gendergerechtigkeit her: Die Offensive, mit der Amanda Wingfield hier den jugendlichen Besucher angräbt, dürfte das (Bühnen-)Klischee, Notgeilheit sei vorrangig eine Männerdomäne, ein für allemal ausgehebelt haben.

Wieder am 23. und 25. Dezember.

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