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"Nach der Sonne" von Jonas Eika: Metallische Sehnsucht

Der dänische Autor Jonas Eika hat mit der "Nach der Sonne" fulminante Erzählungen geschrieben. Am Samstag liest er auf dem Literaturfestival in Berlin.

 

Der 1991 in Aarhus geborene dänische Schriftsteller Jonas Eika
Der 1991 in Aarhus geborene dänische Schriftsteller Jonas Eika

© Aphinya Jatuparisakul/Hanser Verlag

„Man muss sich innerlich vollkommen leer machen“, so der Rat, den der 15-jährige Beach Boy eines Strandresorts in Cancún von einem erfahreneren Kollegen bekommt. „Wenn man ihrem Bild entsprechen will, muss man sich selbst in ein Ding verwandeln.“ „Sie“ - das sind die reichen Urlauber, die der Beach Boy zukünftig mit Sonnenmilch, Drinks und Snacks versorgen wird.

Aha, mal wieder eine Kritik am kolonialen Kapitalismus, mag man jetzt denken, und liegt damit richtig und falsch zugleich – denn in Jonas Eikas fulminantem Erzählband „Nach der Sonne“ (Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein. Hanser Berlin. 156 S., 20 €., Sa 19 Uhr 30 Silent Green, So 18 Uhr, Futurium) ist kaum je etwas, wie es am Anfang scheint. So spiegelt die zweigeteilte Novelle "Bad Mexican Dog", die das Herzstück des Bandes ausmacht, nicht nur die Warenförmigkeit menschlicher Körper in der „Sonnenökonomie“, sondern auch mystisch-religiöse Vorstellungen, das Selbst auszulöschen, um etwas anderes hineinzulassen.

2019 erhielt der 29-jährige Däne als bisher jüngster Schriftsteller den renommierten Nordic-Council-Literaturpreis. Wer seine aufsehenerregende Dankesrede gehört hat, in der er scharfe Kritik an der Migrationspolitik der im Publikum sitzenden dänischen Ministerpräsidentin übte, mag überrascht sein, dass seine Texte keine deutlichere politische Message enthalten.

Stattdessen – und genau das zeichnet sie als große Literatur aus – lesen sie sich so sinnlich wie kryptisch, durchzogen von einem dunklen Begehren, das kaum von spiritueller Sehnsucht zu unterscheiden ist.

Eikas zentrales Motiv ist das Loch im Innern des Menschen

Folgerichtig eröffnen sich den Beach Boys beim gegenseitigen Masturbieren in der Umkleide surreale Portale in andere Dimensionen, „als würde der Horizont an unserem Unterleib anfangen, und für einen Moment erinnere ich mich an einen Raum, der hinter dem Meer liegt“; folgerichtig mischen sich Sex und Gewalt in explosiven Bewusstseinsströmen voll brutaler Schönheit („Blut aus dem Mund, lange rote Spritzer werden in der Sonne orange landen im weißen Sand“).

Eikas zentrales Motiv ist das Loch im Innern der Menschen, aber nicht – oder nicht nur – als Ausdruck individuellen Schmerzes, sondern vielmehr als Symptom unserer widersprüchlichen, permanent prekären und von diversen (Selbst-)Technologien bestimmten Welt des 21. Jahrhunderts.

In der minimal schwächeren (und dabei immer noch großartigen) Erzählung „Rachel, Nevada“ zum Beispiel ist es ein greiser Aussteiger, der seinen Schmerz über den Tod seiner Töchter zu lindern versucht, indem er mit einem mysteriösen Sender verschmilzt, den er in der Wüste gefunden hat. Stammt das unirdisch anmutende Objekt mit seinem metallischen Klang von einem nahegelegenen Militär-Areal oder gar von Außerirdischen?

Unweigerlich denkt man bei den Pflanzen und Tieren, die sich wie magnetisch gezogen an den Sender schmiegen, auch an den Heiligen Franz von Assisi. Posthumane Body-Hacks, christliche Erlöserfantasien und Alien-Trash fügen sich bei Eika zu einem überraschend stimmigen Ganzen.

Am eindrucksvollsten gelingt die Mischung aus realistisch-gegenwärtigem Erzählen und Sci-Fi-Elementen in der einleitenden Geschichte „Alvin“, in der ein IT-Berater feststellt, dass seine Kopenhagener Bank in einem gigantischen Krater verschwunden ist. Aus Mangel an Alternativen lässt er sich von einem jungen, charismatischen Investment-Banker in die Geheimnisse der Derivat-Geschäfte einführen.

Zugleich entwickelt sich zwischen ihnen eine latent homoerotische Beziehung, deren sexuelle Energien sich im gemeinsamen Beobachten von Aktienkursen entladen. Dabei fällt der Erzähler in ein merkwürdiges Zeitloch – eine grandios fühlbar gemachte Analogie zu seinen Spekulationen mit fiktiven Warenpreisen der Zukunft, in denen sich Vergangenheit und Gegenwart gleichsam aufheben. Sind Tage, Wochen oder Monate vergangen?

Man denkt an Leonhard Hieronymi, Juan S. Guse oder Joshua Groß

Am Ende überrascht es kaum, dass der Protagonist die Bankangestellten, die er am Anfang hatte treffen sollen, in den Ruinen der gesprengten Bank vorfindet. In merkwürdig verkrümmten Positionen arbeiten sie weiter, „als hätte irgendeine verborgene Intelligenz oder höhere Macht die Bank in Schutt und Asche gelegt und zwänge ihre Mitarbeiter nun in neue Formen hinein“ – eine anschaulich-ironische Verzerrung der milliardenschweren Bankenrettung nach dem Finanzcrash von 2008.

„Nach der Sonne“ kommt so hyperreal daher wie in Cancún „der Sand weiß ist wie die Kokosmasse in einem Bounty“. Tagtäglich performen die Beach Boys „Authentizität“ für ihre Kundschaft, während sich die Unterschiede zwischen Menschen und Maschinen zunehmend relativieren. „Der lärmende Prozessorkühler verstummte wie ein Mensch, dessen Atem aussetzt“, heißt es an einer Stelle. An einer anderen ist von „Auroras besonderem Seufzen“ die Rede, „einem langgezogenen und defekt klingenden Sirren wie von einem überhitzten Computer“.

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Sucht man nach Entsprechungen im deutschsprachigen Raum, kommt einem Leonhard Hieronymis Manifest der Ultraromantik in den Sinn, das 2017 gegen das „inoffizielle Ekstaseverbot“ im hiesigen Literaturbetrieb antrat; auch die intertextuelle Verspieltheit von Juan S. Guse oder die magisch-realistische Metaphernwelt von Joshua Groß sind nicht weit.

Unter den künstlerischen Referenzen, die Eika am Ende seines Buches nennt, finden sich Clarice Lispector, Simone Weil und William Burroughs; auch der Apostel Paulus überrascht nicht. Unbedingt hinzufügen möchte man allerdings Donna Haraway, die große feministische Theoretikerin der Entgrenzung.

Nicht nur verschwimmen bei Eika die Trennlinien zwischen Organischem und Anorganischem, Anpassung und Widerstand – insbesondere „Bad Mexican Dog“ wagt sich weit vor damit, verschiedene Spezies zu vereinen und das chronologische Fortschreiten der Zeit radikal zu unterwandern, lässt die Boys wahlweise zu Wildkatzen oder Garnelen und Tote wieder lebendig werden.

Alles in „Nach der Sonne“ flimmert und flirrt, gewinnt Konturen und verliert sie wieder: Die Sonnenschirme, die Liegen, die Körper, die Worte. Das ist weit mehr als esoterische Gedankenspielerei oder reines Sprachexperiment – es ist, nimmt man Eikas Texte ernst, vielleicht das einzig mögliche Schreiben im Anthropozän.

Anja Kümmel

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