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Die Philosophin Ágnes Heller (1929-2019).

© Thilo Rückeis

Nachruf auf Ágnes Heller: Der Finsternis widerstehen

Sie dachte leidenschaftlich, antitotalitär und konsumkritisch: Zum Tod der ungarischen Philosophin und Soziologin Ágnes Heller.

Von Gregor Dotzauer

In ihrem amerikanischen Leben hatte sie den Neomarxismus ihrer jüngeren Jahre fast vollständig hinter sich gelassen. Als die ungarische Philosophin Ágnes Heller 1986 den Hannah-Arendt-Lehrstuhl an der New School of Social Research in New York übernahm, erschienen ihr nach der bitteren Erfahrung mit beiden politischen Tyranneien des 20. Jahrhunderts liberale Demokratien als das geringste aller Übel. Und doch kann keine Rede davon sein, dass sie die Antriebe ihres Denkens verraten hätte.

Bis zuletzt verstand sie ihre Philosophie als ein antitotalitäres work in progress, das ständig neue Umbauten erforderte – und eine Solidarität mit immer neuen Verbündeten. In ihrer Dankesrede zum Carl-von-Ossietzky-Preis erklärte sie 2012, dass sie die Auszeichnung als jemand erhalten habe, der sich mehrmals für die Freiheit und gegen die Unterdrückung eingesetzt habe: „Ich bin es aber nicht allein gewesen. Auch in den Zeiten des Kádár-Regimes habe ich dem offiziellen Druck zusammen mit Freunden widerstanden. Wir haben zusammen gegen die sowjetische militärische Intervention in der Tschechoslowakei öffentlich protestiert und dafür mit unserem wissenschaftlichen Leben in Ungarn bezahlt. Und es ist auch kein Zufall, dass die Kampagne der Orbán-Regierung für die Einschränkung der Freiheitsrechte mit einer Kampagne gegen die Philosophen anfing.“

Mit der 1975 verstorbenen Hannah Arendt, einer Frau, der sie nie leibhaftig begegnet war, traf sie sich in ebendiesem antitotalitären Impetus. Auf jede Gemeinsamkeit kam aber auch eine Differenz. Der amerikanische Historiker Martin Jay, ein Chronist der Frankfurter Schule, zeigt in seinem Aufsatz „Frauen in finsteren Zeiten“ treffend, wie gerade ähnliche biografische Konstellationen bei gleicher Begeisterung für Figuren wie Rosa Luxemburg zu unterschiedlichen Ausrichtungen führten.

Temperamentvolle Vortragsrednerin und Gesprächspartnerin

Beide waren Schülerinnen bedeutender, politisch radikal entgegengesetzter Denker und distanzierten sich später von ihnen: Arendt von Martin Heidegger und Heller von Georg Lukács. Und beide lebten in intellektuellen Partnerschaften, die ihre Arbeit inspirierten: Arendt mit Heinrich Blücher und Heller mit ihrem zweiten Mann Ferenc Fehér, einem herausragenden Kopf der neomarxistischen Budapester Schule. Sie spielte auch für die jugoslawischen „Praxis“- Philosophen und deren internationale Vernetzung eine wichtige Rolle. Heller war mehrfach bei den legendären Sommerschulen von Korčula zu Gast, einer Insel vor der süddalmatinischen Küste, wo sie unter anderem ihrem langjährigen Freund Jürgen Habermas, Iring Fetscher oder Lucien Goldmann begegnete.

Als staunenswert produktive Autorin hatte sie zumindest hierzulande nie den Einfluss, den sie als temperamentvolle Vortragsrednerin und Gesprächspartnerin besaß – ihr typisch ungarisch akzentuiertes Deutsch hatte sie von ihrer Wiener Großmutter gelernt. Das liegt nicht zuletzt an den randständigen Verlagen, in denen der größte Teil ihrer Bücher erschien. Die „Theorie der Gefühle“, ein konsumkritisches Schlüsselwerk der Neuen Linken, das Herbert Marcuse geradezu pubertär aussehen lässt, kam wie viele ihrer Bücher im linken Hamburger VSA-Verlag heraus. In Wien betreut heute die Edition Konturen ihr Werk. Je älter sie wurde, desto williger übernahm sie allerdings auch die Rolle der Jahrhundertzeugin, in der sie einem breiten Publikum vermittelte, was Leidenschaft des Denkens ist.

Ihr Vater kam in Auschwitz um Leben

In den Tiefen des 20. Jahrhunderts, aus denen sie kam, war Reflexion nicht gefragt. Es ging ums Überleben. 1944, als 15-Jährige, entging Ágnes Heller, die zusammen mit ihrer Mutter ins Getto ihrer Geburtsstadt Budapest verbannt worden war, nur durch glückliche Zufälle den Erschießungen der faschistischen Pfeilkreuzler am Ufer der Donau. Ihr Vater dagegen, ein Anwalt, kam in Auschwitz um. Auch die junge Nachkriegskommunistin, die in der Lehre von Marx das Gegengift zu den Verheerungen des Nationalsozialismus sah, fühlte sich jedoch bald bedroht. Der erste Parteiausschluss erfolgte 1949, im Jahr des Machtantritts von Mátyás Rákosi, einem Erzstalinisten, der zweite nach der sowjetischen Niederschlagung des Ungarn-Aufstands im Jahr 1956. Als Schülerin von Georg Lukács, der in der Regierung des Reformers Imre Nagy das Amt des Kulturministers innehatte, weigerte sie sich, ihn zu belasten und war fortan marginalisiert. Erst 1963 konnte Heller wieder eine soziologische Forschungsstelle an der Ungarischen Akademie antreten.

Für sie bestand ein grundlegender Unterschied zwischen der Unfreiheit, der Menschen ausgesetzt sind, und der Möglichkeit, auch in Zwangslagen eine Wahl treffen zu können. Es ist, wenn man ihren Tod mit 90 Jahren am vergangenen Freitag nicht zu einem heroischen Akt stilisieren will, eine bittere Ironie, dass ihr diese Entscheidung ein einziges Mal aus der Hand genommen wurde. In Balatonalmádi, ihrem Urlaubsort am Nordufer des Plattensees, schwamm sie hinaus und kehrte nicht mehr ans Ufer zurück.

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