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Lust am politischen Spott. Karl Heinz Bohrer (26. September 1932 bis 4. August 2021).

© dpa

Nachruf Karl Heinz Bohrer: Im deutschen Pandämonium ist die Hölle los

Feuerkopf und Gentleman: Zum Tod des großen Literaturwissenschaftlers und Publizisten Karl Heinz Bohrer.

Von Gregor Dotzauer

Alles Gemütliche war ihm zuwider, und dass andere es sich in dieser Welt gemütlich machen wollten, hielt er für verhängnisvoll. Karl Heinz Bohrer hatte nicht nur als Kriegskind jedes Recht, gegen falsche Idyllen zu polemisieren. Er wusste, dass die alte Bundesrepublik, in der er als Publizist und Literaturwissenschaftler Karriere machte, ein historisches Reservat war, dessen Schutzzäune früher oder später fallen würden.

Man muss nur einige Titel seiner Bücher Revue passieren lassen, um Bohrers Sensorium für den Einbruch des Anderen, immer im Modus der „Plötzlichkeit“, wie eine seiner einflussreichsten Kategorien hieß, dingfest zu machen. Es war eine „Ästhetik des Schreckens“, mit der er sich im Blick auf Ernst Jüngers kriegerisches Frühwerk in Bielefeld habilitierte, wo er von 1982 bis zu seiner Emeritierung 1997 den Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturgeschichte innehatte.

Er interessierte sich für „Ästhetische Negativität“, untersuchte „Imaginationen des Bösen“ oder widmete sich in „Mit Dolchen sprechen“ den Reizen „literarischer Hasseffekte“. Immer geht es um das Ekstatische, das Agonale oder das Pathetische, in Texten, die auch im Hochtheoretischen vom Sinnlichen literarischer Texte wussten. Eine Erfahrung, die er sicher nicht zuletzt seiner ersten, 2002 in Paris gestorbenen Frau, der Schriftstellerin Undine Gruenter verdankte.

Wie er dieser Passion für sämtliche Formen gesteigerter Empfindungsfähigkeit nicht nur akademisch, sondern auch autobiografisch auf die Spur zu kommen versuchte, zeigt sich am bewegendsten in seinen 2012 erschienenen Erinnerungen „Granatsplitter“. Sie nehmen ihren Ausgang als paradigmatische Erzählung einer Kindheit in den dreißiger Jahren, bevor sie in Bohrers eigene Bildungsgeschichte münden, die Lehrern wie Richard Alewyn oder Wolfgang Kayser schließlich auch namentlich Tribut zollt.

Auf zwei Standbeinen

Karl Heinz Bohrer, 1932 in Köln als Sohn eines Diplomvolkswirts geboren, erlebte nach dem Krieg prägende, höchst ambivalente Jahre auf dem Birklehof im Schwarzwald, dem reformpädagogischen Gymnasiumsinternat von Georg Picht, jenem Philosophen, der später die „Bildungskatastrophe“ ausrief. Er studierte unter anderem Germanistik, Geschichte und Soziologie in Göttingen und versah eine Lektorenstelle in Stockholm, bevor er 1961 bei Arthur Henkel in Heidelberg promovierte.

Zu einer Zeit, in der die literaturwissenschaftlichen Institute auf journalistische Unternehmungen ihrer Mitarbeiter noch verächtlich hinabsahen, schuf sich Bohrer früh ein zweites Standbein. Auf dem einen wie dem anderen machte er nicht nur eine gute Figur – er war brillant. Der junge Bohrer schrieb für die „Welt“ und wechselte 1966 zur „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, wo er von 1968 bis 1973 die Literaturredaktion leitete.

Unter den damaligen konservativen Auspizien konnte das auf Dauer nicht gutgehen, und mit Joachim Fest, der 1973 sein Amt als Herausgeber antrat, ging es auch nicht gut. Noch in den 1980er Jahren, Bohrers Nachfolger Marcel Reich-Ranicki führte längst sein strenges, vom ästhetischem Weitblick her ausgesprochen kurzsichtiges Regiment, raunte man sich im dortigen Feuilleton zu, Bohrer sei damals entsorgt worden, weil ihn am Ende niemand mehr verstanden habe. Eine sorgfältige Lektüre seiner Beiträge aus dieser Zeit würde sicher zu anderen Befunden kommen – und eine Offenheit für zeitgenössische literarische Strömungen entdecken, mit der es dann vorbei war.

Jedenfalls war es eine Geste später Gerechtigkeit, als man Bohrer im vergangenen Jahr eine große Würdigung von Reich-Ranicki schreiben ließ. Darin erinnert er sich mit leiser Bosheit daran, dass er Fest „entweder als nicht publikumsorientiert genug oder als zu intellektuell“ galt. Und er fährt fort: „Ersteres war Reich-Ranicki in hohem Maße, Letzteres nach eigenem Zuschnitt nicht. Vermutlich hat ihn der literaturkritische Stichwortgeber jener Epoche, Walter Benjamin, nicht so beeinflusst wie seinen Vorgänger im Amt. Aber was bedeutet das?“

Versetzung nach London

Für ihn persönlich bedeutete es, dass man ihn als Korrespondenten nach London versetzte, in das Land, das er schon als Student kennen und lieben gelernt hatte. Dort aber machte er fürs erste das Beste aus seinem Schicksal. Er wuchs in die Rolle eines Spötters hinein, die weitaus besser zu ihm passte als die eines Literaturpapstes.

Das heißt nicht, dass Bohrer uneitel gewesen wäre: Er war sogar in hohem Maße selbstbezogen. Er wollte das Publikum nicht umarmen, er wollte um jeden Preis auf Distanz zu ihm gehen. Und die Inselperspektive gab ihm die Gelegenheit, vor der Londoner Haustür ein neues Leben zu entdecken und zugleich über das alte auf dem Kontinent herzuziehen. Der notorische Provokateur, zu dem er wurde, war ein Distinktionsgewinnler, der Margaret Thatchers Falkland-Krieg 1982 in der „FAZ“ nicht aus übertriebener Identifikation mit seiner neuen Heimat pries, sondern weil er den Gartenzwerg-Pazifismus der Deutschen verachtete – unter Linken wie Spießbürgern. Er war the man you love to hate.

Niemand durfte überrascht sein, als Bohrer, der zwei Jahre später zum Herausgeber des „Merkur“ berufen wurde, nicht aufhören konnte, die Selbstzufriedenheit der Kohlschen Bundesrepublik zu geißeln. In der Laudatio zum Heinrich- Mann-Preis charakterisierte ihn Gustav Seibt 2007 als „politischen Karikaturisten“. Karikaturisten sind bekanntlich Übertreibungskünstler, und so hat man wohl keine andere Wahl, als Bohrers „Pandämonium“ in einer Linie mit Charles Baudelaires Spott über Belgien und Heinrich Manns Gesellschaftsdiagnosen zu lesen.

Ästhetischer Zugriff aufs Politische

Wie politisch Bohrers kulturkritische Beobachtungen waren, ist dabei keine unwesentliche Frage. Denn sie finden ihre Grenze immer wieder in einem rein ästhetischen Zugriff, der ihn auch dazu verleitete, von einer „Ästhetik des Staates“ zu träumen. Sie leben von Gefühlen des Ekels, vom Bedürfnis, auf Abstand zu einer bedrängenden Körperlichkeit zu halten. In einem Sonderheft des „Merkur“ über „Dekadenz“ verfasste er Prosasplitter, die auch von Botho Strauß hätten stammen können.

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Da findet sich die „junge Frau von walrossartiger Dimension, umgeben von ihrer Nachkommenschaft, drei Jungwalrössern wahrscheinlich unterschiedlichen Geschlechts“. Die „unglückliche Person im Nachmittagsfernsehen“. Oder der „Mann in einer Art Schlafanzug in einer kleinen ostdeutschen Stadt“: Sie bevölkern Bohrers Deutschland mit der ganzen Impertinenz ihrer Unterschichtsverlotterung und illustrieren die Diagnose, dass in Deutschland eine „Inversion von Politischem und Privatem“ stattfinde: „Es gibt keine private Miserabilität, keine private Obszönität, keine private Hässlichkeit, die qua Massenmedien nicht zum Stand des öffentlichen Bewusstseins gemacht würde und dort einschlägig normative Wirkung zeitigt.“

Zu dieser Art von Kritik gesellte sich eine schnell wachsende Linksphobie. Vor allem nach 9/11 sah es von außen so aus, als hätte im „Merkur“ ein Fall gegenseitiger Neurotisierung eingesetzt. Unter Bohrers Führung schlug sich die Zeitschrift mit ihrem Co-Herausgeber Kurt Scheel und ihrem Autor Michael Rutschky vorbehaltlos auf die Seite der Amerikaner und deren militärische Interventionen gegen ein als bedrohlich erlebtes islamisches Imperium. Was sich der „Merkur“ anfangs zu Recht als Nonkonformismus zugutehalten konnte, wurde in der Folge medial epidemisch. Blinder Anti-Antiamerikanismus und blinder Anti-Antikapitalismus drangen auch in die Feuilletons vor.

Wenn Bohrer mit dem „Merkur“ auch seine größte Prominenz errang, so sind es doch seine ästhetischen Studien, die Bestand haben werden: Texte, die im akademischen Einerlei durch einen Esprit auffallen, den er auch im Gespräch versprühte. Am Mittwoch ist der intellektuelle Feuerkopf und Gentleman Karl Heinz Bohrer mit 88 Jahren in London gestorben.

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