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Kultur: Nerz und Henkersschürze

Sechs deutsche und sechs ungarische Schriftsteller vergleichen im LCB die Vergangenheit ihrer Länder

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In der ungarischen Sprache ist nur eine einzige Vergangenheitsform gebräuchlich. Dafür gibt es mindestens drei Daten, die für den ungarischen Nationalfeiertag in Frage gekommen wären: die Staatsgründung durch König Stephan im Jahr 1000, die Erhebung gegen Habsburg 1848 und der Volksaufstand 1956. Nationale Gedenktage sind wie Kleiderhaken, meint der ungarische Schriftsteller Lajos Parti Nagy: Dass man an einigen dieser Haken Menschen aufgeknüpft hat, wird gerne vergessen, andere werden so behängt mit Kleidern, „mit Festtagstrachten, Nobelnerz und Henkersschürzen“, dass sie umkippen.

Das zeigte sich am 23. Oktober letzten Jahres: Zum Gedenken an die von Kommunisten gegen Kommunisten geführte Revolution marschierte die extrem Rechte auf, mit rot-weiß-gestreiften Fahnen, die einst das so genannte Pfeilkreuz trugen – das ungarische Hakenkreuz.

Der so wechsel- wie widerspruchsvollen ungarischen und deutschen Erinnerungskultur widmete sich ein Autorentreffen im Literarischen Colloquium Berlin. Zwei Tage lang diskutierten zwölf Schriftsteller aus beiden Ländern ihre Beiträge zum Thema des „Kreativen Vergessens“. Die Gemeinsamkeit des kollektiven Gedächtnisses in beiden Ländern besteht für den Schriftsteller György Dalos dabei gerade in ihrer inneren Spaltung.

Wie die deutsche Erinnerungsgeographie noch immer in Ost und West zerfalle, so sei die ungarische Vergangenheit umkämpft zwischen einer katholischen und protestantischen, einer ehemals habsburgischen und osmanischen, einer linken und rechten Fraktion: „Wieso brauchten die Deutschen zwei Länder für ihre Spaltung“, fragte er: „In Ungarn ist längst zusammengewachsen, was nicht zusammengehört.“

Die Geschichten, die Schriftsteller vom Untergang zweier Diktaturen erzählten, klingen ganz anders als die der Historiker. Vielleicht sind sie nicht wahr, dafür aber nicht weniger wahrhaftig. So schilderte die in Ostberlin geborene Katja Lange-Müller jenen Augenblick, der für sie den Anfang vom Ende der DDR bedeutete: Es war 1984, in der Nähe des Innenministeriums, als ein kleiner SchuPo sich ein riesiges Stück Käse in die Tasche steckte, Ziegenkäse, und davon lief: Sollte sie die Polizei rufen, um einen Polizisten zu verhaften?

Eine vergleichbare Szene schilderte Terézia Mora aus ungarischer Perspektive: Es war 1983, als sich eine 200-köpfige Schar rotkrempiger Jungpioniere in Polen traf, um bei der Besichtigung der Schwarzen Madonna von Czestochowska kollektiv in die Knie zu fallen: So tief hatte sich der Sozialismus in die Herzen der Kinder gesenkt...

Dass Terézia Mora gerade dieses Erlebnis nie literarisch geschildert hat und wohl auch nie schildern wird, hat poetologische Gründe. Sicher, man müsse die Erinnerung aus der „Geiselhaft der Floskeln befreien“, in der sie von Politikern und Feuilletonisten gehalten wird. Es gebe aber „Wörter, die einen Text mit Mann und Maus an sich reißen“, Wörter wie „Pionier“, „Real.Ex.Soz.“ oder „Parteisekretär“, Wörter, durch die schon auf dem Klappentext alles klar zu sein scheint. Deshalb spielt ihr Erzählband „Seltsame Materie“ auch nur irgendwo in Ostmitteleuropa, irgendwann nach dem Zweiten Weltkrieg: Kann man Wahres über eine Diktatur nur dann schreiben, wenn man gerade nicht über diese Diktatur schreibt?

„Ich habe keine Lust, mich durch parteipolitischen Schlamm zu quälen, also setze ich von woanders an“, ist in diesem Zusammenhang die Devise von Lajos Parti Nagy. So schildert sein Roman „Meines Helden Platz“ eine offenbar faschistoide Machtergreifung als Machtergreifung einer Rotte von Tauben, die wilde Züchtungsfantasien entwerfen von zu Tauben umoperierten Menschen, Taubenmenschen, Übermenschentauben: Das kann alles als Parabel gelesen werden, muss es aber nicht.

Eine vergleichbare Strategie verfolgt László Garaczi in der Erzählung „Himmel“: Die dort geführte Kampagne gegen sogenannte Fruchtwickler, eine Spezies von Parasiten, deren Larven für ihre Gefräßigkeit bekannt sind, persifliert nicht zuletzt eine totalitäre Rhetorik der Schädlingsbekämpfung.

Die Perspektive, dass die historische Geschichte selbst schon literarischen Gesetzen folgt, eröffnete schließlich eine Erzählung von Gábor Németh: Sie spielt zur Zeit der Revolution von 1956.

Ein Mann, der einen roten Trainingsanzug trägt, wird für einen Stalinisten gehalten und erschossen. Ein Baby, das sich im ebenso roten Bauch seiner Mutter befindet, wird nicht für einen Stalinisten gehalten und folglich auch nicht erschossen. Im einen Fall liest man den Zusammenhang von Mensch und Farbe als metaphorische Ersetzung, im anderen als metonymische Verschiebung:

„Wenn die Menschen, die Geschichte schreiben, wüssten, dass sie schreiben“, meint Németh, „wäre diese Geschichte anders ausgegangen.“

Kaspar Renner

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