zum Hauptinhalt
Die Autorin Angelika Meier.

© Christine Fenzl

Neuer Roman von Angelika Meier: Risse im Gemäuer

Angelika Meier widmet sich in ihrem Roman „Die Auflösung des Hauses Decker“ dem subtilen Horror im Alltag.

Stand:

Wer die letzten beiden Romane von Angelika Meier gelesen hat, kennt die Vorliebe der 1968 geborenen Autorin und Literaturwissenschaftlerin für skurril-fantastische Settings: die futuristische Wellness-Klinik in „Heimlich heimlich mich vergiss“, die gleißende Solarfarm in der kalifornischen Wüste in „Osmo“. Dass ihr jüngster Roman „Die Auflösung des Hauses Decker“ in einer ganz normalen Kleinstadt im Ruhrgebiet der Gegenwart angesiedelt ist, überrascht zunächst.

Allerdings geschehen auch hier bereits im ersten Kapitel einige Merkwürdigkeiten, die auf humoristische Weise an die nahende Apokalypse denken lassen: Ein silbriger Schimmer auf der Ruhr entpuppt sich als Teppich aus toten Fischen; aus der Kanalisation geschwemmte Tampons und Damenbinden, die sich bei Hochwasser in den Bäumen verfangen, zaubern einen „Fabelwald“, durch den staunende Kinder spazieren. Und natürlich weckt auch der Titel – eine Anspielung auf Edgar Allen Poes „Der Untergang des Hauses Usher“ – Erwartungen, es früher oder später mit übernatürlichen Elementen zu tun zu bekommen. Die allerdings schleichen sich dieses Mal auf ziemlich leisen Sohlen an.

[Angelika Meier: Die Auflösung des Hauses Decker. Diaphanes Verlag, Zürich, 2021 272 Seiten, 24 €.]

Das Haus Decker, eine charmant-heruntergekommene Villa aus dem Jahr 1893, wird derzeit bewohnt von Odra Decker, die eigentlich nur kurz aus Berlin kommen wollte, um den Nachlass ihres verstorbenen Vaters zu sortieren. Seitdem sind anderthalb Jahre vergangen. Da sie allein nicht weiterkommt, engagiert sie den Ich-Erzähler des Romans, Josef von Házy, als „Mädchen für alles“. Der Lebenskünstler und selbsternannte Hochstapler bezieht auf Odras Wunsch hin die Einliegerwohnung unterm Dach und fühlt sich sogleich wohl zwischen den nikotinverfärbten Gardinen, afrikanischen Plastiken und Regalen voller Bücher, die der Kunsthistoriker-Vater hinterlassen hat.

Etwas gewöhnungsbedürftig ist die umständlich-präzise Sprache, die Meier ihrem Erzähler in den Mund legt: Durch die Überlast an Adjektiven und Einschüben ziehen sich dessen Sätze nicht selten über eine halbe Seite hin. Im selben Maß wächst der Verdacht, ob sich hinter dieser Übergenauigkeit nicht doch ein unzuverlässiges Erzählen verbergen mag. Zum einen schluckt Josef im Lauf der Geschichte allerlei obskure Mittelchen, die ihm möglicherweise die Sinne trüben, zum anderen kommen bruchstückhafte Anekdoten aus seiner lieblosen, ärmlichen Münchner Kindheit ans Licht, von denen man nie so genau weiß, ob sie wahr oder ausgedacht sind.

Hommage an das rätselhafte Zwirnspulenwesen

Und auch sein Name, erfährt man irgendwann, ist nicht sein echter – oder vielleicht doch? „Mit ein bisschen phantastischer Einfühlung kann man sich die Dinge schließlich immer so hindrehen, wie sie tatsächlich sind“, bemerkt Josef an einer Stelle. An einer anderen gibt Odra ihm den Rat, „man müsse auf alle Fragen nach wirklich wichtigen, persönlichen, ja intimen Dingen ohne Umschweife die Wahrheit sagen, die volle Wahrheit und nichts als die Wahrheit, während man in unwichtigen Dingen lügen müsse wie gedruckt“ – und vermutlich ist man nicht schlecht damit beraten, den gesamten Roman nach diesen Erzählprinzipien abzuklopfen.

Odra, die allein mit ihrem Vater in der Villa aufwuchs, ist inzwischen fünfzig Jahre alt, hat aber auch etwas Androgynes, Jungenhaftes an sich. Bei ihrem ersten Treffen bemerkt Josef: „doch weil sie so kindlich aussah, sah sie zugleich auch unangemessen alt aus“.

Es ist genau diese leichte Unangemessenheit, die Odras Wesen ausmacht und sie zugleich jeder abschließenden Charakterisierung entzieht.

Mal wirkt sie erschreckend banal – etwa, wenn sie sagt „Ich liebe Bargeld“ oder auf ihrer Fernsehpritsche vor dem „Tatort“ dahinvegetiert. Dann wieder erleidet sie ungeklärte emotionale Zusammenbrüche, gibt keine oder nur kryptische Antworten oder verstrickt sich heillos in Widersprüche. Man könnte nun die ein oder andere psychische Störung diagnostizieren – bei einer Figur aus der Feder von Angelika Meier macht es jedoch möglicherweise mehr Sinn, sie als intertextuelle Referenz zu lesen: allen voran wohl als Hommage an das rätselhafte Zwirnspulenwesen „Odradek“ aus Kafkas Erzählung „Die Sorge des Hausvaters“.

Vielleicht ist auch bloß die Heizung kaputt

Trotz Anspielungsfülle und diversen Metaebenen ist „Die Auflösung des Hauses Decker“ weit mehr als ein selbstreferenzielles Kammerspiel. Zum einen gibt es so einige schräge Nebenfiguren, die den Plot bereichern, zum anderen bewegen sich Josef und Odra durchaus vom aufzulösenden Haus weg – oder versuchen es zumindest. „Es schien, das Haus hetzte einem seine Probleme hinterher, sobald man sich zu weit von ihm entfernte“, heißt es mit der für Meier typischen subtilen Ironie. Diese nicht abzuschüttelnden „Probleme“ vergangener Generationen finden ihren Widerhall in den Notizbüchern des verstorbenen Vaters, in denen er unter anderem Betrachtungen zu „Görings Schießbudenlook“, Himmlers Glacéhandschuhen und Picassos „Guernica“ anstellt. Aber auch in den Villen der Stahlbarone entlang der Ruhr und nicht zuletzt in der afrikanischen Kunstsammlung des Vaters stecken Jahrhunderte der Gewalt und Ausbeutung, die zwischen den Zeilen mitschwingen.

In Angelika Meiers elegant durchkomponiertem elliptischen Stil verschwinden oftmals die zentralen Informationen in den nicht erzählten Teilen zwischen den Kapiteln, während sich die Grenzen zwischen Leben und Tod, Gegenständen und Lebewesen zunehmend auflösen.

Der blanke Horror indes, auf den die Poe-Referenzen zu verweisen scheinen, stülpt sich nur vereinzelt und an derart unerwarteten Stellen aus, dass man ihn beinahe überlesen könnte. Zwar geschehen immer wieder Dinge, „von denen man sich schleunigst wegdrehen musste, als sähe man sie nicht, sonst konnte einen die Wahnvorstellung befallen, das Haus werde binnen weniger Wochen einstürzen und es sei hohe Zeit, sich in Sicherheit zu bringen“.

Ob es sich hier allerdings um übernatürliche oder banale Phänomene oder lediglich um Auswüchse der Ängste in den Köpfen ihrer Figuren handelt, lässt Angelika Meier gekonnt offen. Vielleicht durchzieht bereits ein Riss das Gemäuer. Vielleicht ist aber auch bloß die Heizung kaputt.

Anja Kümmel

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })