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© ddp

Kulturhauptstadt: Odysseus in Oberhausen

Glück auf: Das Ruhrgebiet präsentiert sich 2010 als Kulturhauptstadt Europas.

Wie gut, dass es die Autobahnen gibt. Sie durchschneiden die Region auf brutalstmögliche Weise, fressen sich durch Stadtzentren, ganz dicht an den Häuserwänden, rauschen unter Bahnhofsvorplätzen durch, vorbei an Kraftwerken und Kirchen, Puffs und Tuning-Centern, vierspurig, sechsspurig, dicht befahren, Tag und Nacht. Schön ist das nicht – doch ohne die A 40 und die A 42, die das Ruhrgebiet von Ost nach West durchqueren, ohne die A 43 und A 45, die sie kreuzen, wäre der Ortsunkundige verloren. Im drittgrößten Ballungsraum Europas geben allein sie ein wenig Orientierung. Denn, ganz ehrlich: Die großflächig zersiedelte Region zwischen Hamm und Kamp-Lintfort, Haltern und Sprockhövel sieht fast überall aus wie ein Vorort – selbst in den meisten Zentren der 53 Städte, die sich im Kulturhauptstadt-Jahr 2010 nun „Metropole Ruhr“ nennen.

„Das Ruhrgebiet ist das New York Europas“, hat Claus Peymann mal gesagt, „aber es weiß es noch nicht“. Damit meinte der legendäre Intendant des Bochumer Schauspielhauses (1979–86), die lokale Theaterszene. Und in der Tat muss man bis zum Broadway blicken, will man so viele Bühnen auf einem Haufen finden. Das Problem ist nur: Im Ruhrgebiet ist jedes Theater ein Solitär, umgeben von jeder Menge kulturfeindlicher Stadtmasse. Man müsste die 5,3 Millionen Einwohner und ihre Behausungen schon auf der Fläche von Manhattan zusammenschieben, man müsste all die dreistöckigen Mietskasernen und Reihenhäuschen, die Zechensiedlungen und Schrebergartenkolonien, die Industriedenkmale und Einkaufszentren übereinander türmen, um Peymanns Vision Realität werden zu lassen.

Wenn sich Dortmund, Essen, Moers, Mülheim, Oberhausen und Bochum Ende Februar zusammentun, um die „Odyssee“ fürs 21. Jahrhundert neu zu denken, aufgeschrieben von einem Polen, einer Irin, einem Deutschen, einem Ungarn, einer Türkin und einem Österreicher, dann kann das Publikum eben nicht wie in der Ostküsten-Weltstadt von Tür zu Tür ziehen, wenn es das halbe Dutzend Spektakel sehen will, sondern muss vielmehr zwei Tage lang auf eine „Irrfahrt per Bus, Schiff und Ruhr-Taxi“ gehen, einschließlich Übernachtung, weil die Bühnen eben nicht an der 42nd Street liegen. Ja noch nicht einmal alle an der A 42.

Gegen 15 Konkurrenten haben sich Essen und Co. durchgesetzt, als die Bundesrepublik mal wieder an der Reihe war, eine europäische Kulturhauptstadt zu stellen. Als der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg in seiner Funktion als Mitglied der nationalen Auswahljury damals sagte: „Das Ruhrgebiet atmet nicht mehr Staub, sondern Zukunft“, lieferte er den besten Slogan für das Jubeljahr. Wobei die Sache ja ganz so auch nicht stimmt: Sicher, statt mit Stahl und Kohle wird heute vor allem mit Dienstleistungen Geld verdient, doch gerade darum muss der Ruhrgebietler wieder jede Menge Staub fressen – diesmal Feinstaub, ausgestoßen von den unzähligen Lkw und Personenwagen, die unablässig über das Autobahnnetz rauschen. Das ist der Preis entfesselter Mobilität.

Darum hat die Idee eigentlich Charme, das größte Kulturhauptstadt-Fest am 18. Juli just auf der A 40 zu feiern. Zwischen Duisburg und Dortmund wird sich der „Ruhrschnellweg“ an diesem Tag in ein Still-Leben verwandeln, von 11 bis 17 Uhr, auf einer Länge von 60 Kilometern. 20 000 Tische sollen dann auf dem Asphalt stehen, und alle Ruhrmetropoliten sind zum Picknick eingeladen. Kaum wurde diese wahnwitzige Idee allerdings publik, ging auch schon das Gestänker los: Denn die Kommunen, die entlang der Partymeile liegen, befürchten, dass sie nach dem Happening auf den Kosten für die Müllentsorgung sitzen bleiben. Eine halbe Million Euro veranschlagt man allein in Essen für das Reinemachen.

Angesicht der Tatsache, dass in der Region die meisten Städte wegen ihrer desaströsen Haushaltslage unter Finanzaufsicht stehen, rollt da ein ernstes Problem auf die „Ruhr2010“-Macher zu, noch bevor die erste leere Bierbüchse die Böschung hinterm Standstreifen herabgekullert ist. An der Müllfrage werde das Projekt auf keinen Fall scheitern, heißt es aus der Kulturhauptstadt-Zentrale. Doch die Achillesferse des ganzen Unternehmens wird hier deutlich: In Wahrheit ist die Ruhrmetropole nämlich nur eine Zweckgemeinschaft von Lokalpolitikern, die vor allem an den eigenen Kirchturm denken. Jeder will hier erst einmal seine Gartenzwerge ins Trockene bringen. Dann erst blickt man über den Zaun zu den Nachbarn. Darum haben sich die „Ruhr2010“-Macher auch die Sache mit den local heroes ausgedacht: Jede der 53 Städte darf eine Woche lang „Mittelpunkt der Kulturhauptstadt“ sein. Mit Dinslaken geht’s los, Hünxe wird dann im Dezember den Sack zumachen, Essen hat in seiner Funktion als Hauptquartier großmütig auf seine Woche verzichtet, damit es keine kalendarischen Schwierigkeiten gibt.

Blättert man durch den Kulturhauptstadt-Katalog, dann fallen unter den 2500 geplanten Veranstaltungen vor allem die unendlich vielen kleinen Projekte auf: Bei „Pottfiction“ beispielsweise sind Jugendliche aufgerufen, in Workshops die Frage zu klären: „Wie stellst du dir eine bessere Welt vor, und was bist du bereit, dafür zu tun?“ In den Sommerferien 2010 findet dann das große Finale statt, mit jeder Menge Performances im Theater Kohlenpott in Herne.

Mögen aus Berliner Sicht Initiativen wie die „Poesie-Oasen“ von Castrop-Rauxel auch arg bescheiden wirken, so sind sie mittlerweile ganz im Sinn der 1985 ins Leben gerufenen Kulturhauptstadt- Idee. Standen anfangs noch spektakuläre Events im Vordergrund, gelten längst Bevölkerungsnähe und Nachhaltigkeit als schick. Think global, act local: Wenn das Jahr vorbei ist, sollen die Leute vor Ort weiterhin etwas von der Kulturhauptstadt haben. Wie im Fall des Dortmunder U. Eine halbe Ewigkeit stand das markante Brauereigebäude im Zentrum leer, dank 2010 wurde es nun renoviert und steht künftig den Kreativen der Region zur Verfügung. Nachhaltig verschönert wird auch die Emscher- Insel, ein kilometerlanges Eiland, das durch die Parallelführung des Rhein- Herne-Kanals mit dem Fluss Emscher entstanden ist. Beim größten Kunstprojekt der Kulturhauptstadt werden 40 Künstler an 20 Orten Freiluft-Objekte errichten, vom Wandmosaik an einem ehemaligen Faulturm bis zum versunkenen Garten im ungenutzten Klärbecken. „Die Kulturhauptstadt findet nicht nur im Saal statt“, wie es „Ruhr2010“-Chef Fritz Pleitgen plakativ postuliert. Zum Beispiel auch, indem man sich auf die „Route der Wohnkultur“ macht, die das Wachsen der Region anhand des Siedlungsbaus von 1846 bis heute dokumentiert. Da gibt es nicht nur Fachwerkhäuser in Hattingen zu sehen, sondern auch Bochumer Trabantenstädte.

Ein wenig intellektuellen Chic importiert man sich aber auch: Der Performancephilosoph René Pollesch vollendet am 18. Juni in Mülheim seine „Ruhrtrilogie“, Gute- Laune-Musiker Bobby McFerrin soll am 5. Juni dafür sorgen, dass beim „Day of Song“ nicht nur abertausende Laiensänger auf dem Spielfeld im Gelsenkirchener Fußballstadion Spaß haben, sondern auch die Ränge mitmachen. Hochkulturell wird es bei der Hommage an den Doyen der zeitgenössischen Musik, Hans Werner Henze, die sich übers ganze Jahr erstreckt.

Bescheidene 65,5 Millionen Euro darf das Kulturhauptstadt-Jahr kosten – 2009 hatte die österreichische Provinzstadt Linz 73 Millionen Euro zur Verfügung. Eine neue Metropole wird Europa am Ende kaum haben, doch vielleicht werden die Leute im Pott ein wenig selbstbewusster auftreten – und womöglich sogar der Vision des französischen Romanciers Michel Butor näher gekommen sein: der Verwandlung „unserer Welt der Zerrissenheit in einen Garten von universaler Urbanität“. Bei einer Fahrt über die A 40 lässt sich trefflich darüber nachsinnen. Denn hier steckt man fast immer im Stau.

Das ZDF überträgt am 9. Januar die Eröffnungsfeier von Zollverein live ab 15 Uhr.

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