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Opfernarrative von Matthias Lohre: Was unterscheidet Mikroaggression von Hass?

Im Dickicht des Zorns: Matthias Lohre entheddert den Wust der aktuellen Opferinflation. Über autoritären Missbrauch und politische Fallen der Opferdiskurse.

Von Caroline Fetscher

Alle haben wir Vorurteile. Aber. Ist „alle“ zu sagen nicht schon eins? Ist „wir“ zu sagen nicht bereits Anmaßung? Und was unterscheidet ein Vorurteil vom Ressentiment, was die Mikroaggression vom Hass? Matthias Lohre, lange Jahre Redakteur der „taz“, heute als Autor für die „Zeit“ und andere Blätter tätig, will mit seinem lesenswerten Buch den semantischen und zeithistorischen Wust der aktuellen Opferinflation entheddern und stellt akute Fragen.

Tapfer stapft Lohre durch einen Wald aus Zorn, Groll, Ängsten und Zuschreibungen, in dem Opfernarrative sprießen, was ihnen aktuell gut gelingt. Wer immer sich ausgegrenzt fühlt, verbal oder sozial angegriffen, wer sich ungesehen erlebt, schief angesehen oder angestarrt, kann geltend machen, Opfer diskriminierender und unbekömmlicher Verhaltensweisen zu sein.

Im Doublebind gefangen

Schlimmer noch als offene Rassisten hat etwa der Amerikaner Derald Wing Sue erklärt, dessen aus China stammende Eltern, die nach Portland, Oregon eingewandert waren, seien für „people of color“ die Wohlmeinenden, „moralische, anständige“ Kollegen, Nachbarn und so fort. Deren Freundlichkeit und Toleranz verschleiere die Tatsache, dass Rassismus existiert. Mit anderen Worten: Sie sind im Doublebind gefangen, richtig machen können sie nichts.

„Die Kultur des Opfers“, folgert Matthias Lohre, wende sich mit solcher Logik ausgerechnet gegen „die Befürworter der Meinungsfreiheit“, also Liberale, Progressive, Linke und gemäßigte Konservative. Da mögen sie beteuern, wie und was sie wollen. Das Opfer beharrt: „Ich weiß genau, wie Sie das gemeint haben!“

Wo Opferkonkurrenz dominiert, da gerät freier Diskurs rasch unter die Räder. Das nutzen besonders gern die Populisten, deren prominentester, globaler Vertreter ein mächtiger Mann ist. Donald Trump, Milliardär und Präsident der USA, entwirft sich bei jeder Gelegenheit als Opfer von Fake News, Lügenpresse und Hexenjagden. Längst hat nicht nur Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro es ihm nachgetan, und tüchtig ist die AfD im Konstruieren der „Deutschen“ oder der „Nation“ als Opfer von Immigranten und linksgrünen Gutmenschen.

„Tragischerweise“, so Lohre, ziehen gerade die autoritären Machtfiguren mit solchen Erklärmustern Menschen an, „die sich schuldig oder minderwertig fühlen“. Matthias Lohre geht es keineswegs darum, Solidarität mit Diskriminierten und Beschädigten zu diffamieren oder traumatische Erfahrungen zu diskreditieren.

Vielmehr richten sich seine hellen Scheinwerfer auf die politischen Fallen, die Opferdiskurse gerade denen stellen, die Anerkennung und Chancengleichheit suchen, brauchen und für beides sorgen wollen. Für sie kann das Buch zum Aufklärungsschub werden.
[Das Opfer ist der neue Held. Warum es heute Macht verleiht, sich machtlos zu geben. Random House, Gütersloh 2019 287 S., 22 €.]

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