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Lyrisches Projekt: Penelopes Antwort

„Niemands Frau“: In Barbara Köhlers Gegengesängen zu Homers „ Odyssee“ brechen alte Strukturen auf. Die Künstlerin hat zehn Jahre an ihrem Werk gearbeitet. Herausgekommen ist ein lohnenswertes Buch mit Hör-CD.

Eine schwere Wellenbewegung auf offener See, ganz nah. Die Videokamera fährt auf die Wasseroberfläche zu, scheint fast einzutauchen ins Meer, dann weht aus dem Off eine weibliche Stimme herüber. Es ist die Stimme der Dichterin Barbara Köhler, die in leise schwingender, dann immer kräftigerer Rhythmisierung einen Resonanzraum herstellt für eine uralte Geschichte, die Geschichte des Irrfahrers und Fraueneroberers Odysseus. So beginnt eine Videoarbeit der Zürcher Künstlerin Andrea Wolfensberger, die in acht Sequenzen Barbara Köhlers lyrisches Projekt visualisiert hat.

„Niemands Frau“ wagt die Überschreibung eines fast dreitausend Jahre alten Stoffs, die Auflösung einer Heldenlegende. Über zehn Jahre hat die 1959 im sächsischen Burgstädt geborene Barbara Köhler an ihrem hochmusikalischen Versepos gearbeitet, länger als der problematische Held in Homers Erzählung unterwegs war. Der in Blocksatzstruktur gefasste Gedichttext, der auf 22 „Gesänge“ aufgeteilt ist, versteht sich dabei als lyrische Partitur für ein poetisch-visuell-akustisches Gesamtkunstwerk.

Bereits der Titel dieses eigenwilligen Gedichtbuchs zeigt an, dass sich hier ein radikaler Perspektivenwechsel vollzieht. Hier spricht nicht der listige Kriegsheld, der aufgrund seiner Täuschungskunst unablässig Triumphe feiert. Hier spricht „Niemands Frau“, eine Bezeichnung nicht allein für Penelope, die Frau des Odysseus, sondern für ein weibliches Kollektivsubjekt. Bei Homer hatte sich der gefangene Odysseus dem gefährlichen Zyklopen Polyphem als „Niemand“ vorgestellt und mit dieser List den Ausbruch aus der Höhle des Riesen vorbereitet. In Barbara Köhlers Re-Lektüre des Mythos verlieren sowohl Odysseus als auch Polyphem die Deutungshoheit über das Geschehen. Was bleibt, ist ein poetisches „Polymorphem“, also die Vielgestaltigkeit und Vieldeutigkeit der Akteure und Stimmen. Poesie und Sprachtheorie fallen bei dieser Dichterin zusammen.

Ins Zentrum rücken in „Niemands Frau“ die weiblichen Protagonisten des Mythos. Wenn in der bisherigen Interpretation des homerischen Epos „Frauen sang- und klanglos verschwanden“, wie Köhler in ihrem Nachwort anmerkt, so bestimmen nun Kirke, Nausikaa, Skylla, Kalypso und Penelope ihren Ort neu. Dabei geht es nicht um eine Neujustierung weiblicher Macht, sondern um eine Auflösung starrer sprachlicher Hierarchien. Freilich wird dieses poetische Gewebe nicht nur aus „ältren Sprachschichten“ genährt. Selbst der 11. September kreuzt die Bahn des Irrfahrers aus Ithaka: „Trojas FALLING TOWERS / den echtzeitzielanflug den einschlag sich / in der endlosschleife KEEP YOUR SEATBELTS / FASTENED sehen & hören....“

„Im Mundraum im Sprachraum sind wir Gefangene“, schreibt Barbara Köhler in den „vermischten Schriften“ des Bandes „Wittgensteins Nichte“ (1999) – und tatsächlich kreisen all ihre Texte um die Verletzungen, die das starre System von Syntax, Semantik und Grammatik dem sprechenden Subjekt zufügen. Auch „Niemands Frau“ inszeniert den Zusammenprall von Sprache und Macht und den Kampf um Selbstbehauptung als sprachliche Zerreißprobe. Die Stimmen von Kirke und Penelope bewegen sich nicht nur durch die Schauplätze Homers, sondern immer auch durch technische Apparaturen, durch Aufzeichnungs- und Speichermedien.

Die Echoeffekte des Mythos werden buchstäblich hineinkopiert in moderne Wahrnehmungsformen. So entsteht eine Drehbewegung, in der antike und moderne Motive ineinander verwirbelt werden. Und so begegnen die alten Figuren des Mythos im vierten Gesang dem Mathematiker, Computer-Erfinder und Kryptologen Alan Mathison Turing.

Mythos und Moderne verschmelzen im Monolog: „...ein langsamer langsamer walzer / ein drehen im fallen ein lallen: SALOMEDUSA / MEDUSALOME Amor a Morphe M.Orpheus Eurydike / dreht sich um & um Echo die unsichtbare die / steinerne das rätsel die sphinx the Enigma: / TURNING TURNING. TURNING. TURNING TO STONE.“

Auf der dem Buch beigefügten Hör-CD wie auch auf der DVD, die Andrea Wolfensbergers Visualisierung der Gesänge dokumentiert, hat Barbara Köhler diese Dreh- und Wellen-Bewegungen der Sprache suggestiv umgesetzt. Auch wenn die poetologischen Theorieaufschüttungen dieses Textes mitunter übertrieben wirken, kann man sich der Magie dieser beschwörenden Gegengesänge zur Odyssee kaum entziehen.

Barbara Köhler: Niemands Frau. Gesänge. Mit einer CD. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007. 112 Seiten, 16,80 €. Andrea Wolfensbergers DVD zu „Niemands Frau“ erscheint in einer Schachtel der Edizioni Periferia (Luzern/Poschiavo), die weiteres Text- und Bildmaterial zum Buch enthält.

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