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Kultur: Peter Radtke: Warum bist du denn auf der Welt?

Man muss aufpassen, dass man nicht zu viel in diesen Menschen hineininterpretiert. Doch verführerisch ist es schon, in Peter Radtke, diesem kleinen, zerbrochenen Mann, eine Art Kronzeugen zu sehen.

Man muss aufpassen, dass man nicht zu viel in diesen Menschen hineininterpretiert. Doch verführerisch ist es schon, in Peter Radtke, diesem kleinen, zerbrochenen Mann, eine Art Kronzeugen zu sehen. Es geht um eine Frage, die gar nicht so leicht zu formulieren ist, weil sie so schnell hohl und sozialkitschig klingt. Man könnte sie so fassen: Wie gehen erfolgreiche, starke Menschen mit nicht so erfolgreichen, schwächeren Menschen um? Peter Radtke denkt nach und macht ein Gesicht, wie einer, der schon zu lange über etwas nachgedacht hat. "Wissen Sie", sagt er in seinem Münchner Büro, rein formal seien ja durchaus Fortschritte zu verzeichnen, etwa in der gesetzlichen Gleichstellung von Behinderten, "aber ich komme mir vor, wie wenn man ein letztes Bild in einem Haus aufhängt, und gar nicht bemerkt, dass das ganze Haus gerade dabei ist in einen Abgrund zu stürzen".

Peter Radtke sieht erholt aus. Sein Gesicht ist braun gebrannt, er kommt gerade aus Kreta. Fernreisen, das hat er oft in Interviews betont, sind sein Hobby. Was bei ihm mehr aussagt als vielleicht bei anderen, die auch gerne die Welt sehen. Denn Peter Radtke kann nicht gehen, er ist auf seinen Rollstuhl angewiesen. Er scheut keine Mühen, um dorthin zu kommen, wohin er will. Auf Kreta war er eine Woche. "Sehr schön war es", sagt er. Er hat eine kleine Kanüle im Hals. Das war ein bisschen lästig, sagt er, das Beatmungsgerät musste mit, für die Nächte. Radtke lag einige Monate im Krankenhaus, es ging um Leben und Tod. Radtke war zusammengebrochen. Ursache: Überanstrengung, Stress, "ich atmete nicht mehr richtig, schon eine Zeitlang", daher war der Luftröhrenschnitt notwendig geworden. Er spielte gerade in Zürich Theater, den Hauptmann im "Woyzeck", er merkte, dass es eigentlich nicht mehr ging, aber es standen noch zwei Vorstellungen auf dem Programm. "Ich hätte absagen müssen, aber das ist typisch für Behinderte. Sie wollen nicht schwach sein, sie wollen durchhalten, komme, was wolle. Nun ja".

Lebensfanatiker ohne Stimme

Er war schon so unendlich oft im Krankenhaus gewesen, aber diesmal hatte es für ihn eine dramatische Dimension: Wegen der aufgeschnittenen Luftröhre konnte er nicht sprechen, für ihn eine neue Form der Hilflosigkeit. "Reden habe ich immer gekonnt, plötzlich ging auch das nicht mehr." Wenn ihm jemand ein Kompliment machen wollte, lautete es immer: Herr Radtke, das Wichtigste am Menschen ist doch der Kopf! Und nun war er zum Schweigen verdammt auf der Intensivstation, da sei er kurz so etwas wie verzweifelt gewesen, "ich bin eigentlich ein Lebens-Fanatiker, aber da dachte ich schon: Mensch, wie wird das mit dir weitergehen, jetzt?" Es sah nicht gut aus, aber er hat es nochmal gepackt. Die Kanüle kommt auch bald weg, und kommende Woche am Donnerstag steht er in Berlin auf der Bühne, im Berliner Ensemble in dem Stück "Ein Bericht für eine Akademie" von Franz Kafka, inszeniert von George Tabori. Ein bisschen früh vielleicht? Nein, sagt er, "das geht schon".

Er hat viel Theater gespielt, Beckett, Kafka. Große Rollen in großen Häusern. Vor allem arbeitete er mit den Regisseuren Tabori und Franz-Xaver Kroetz. Früher schrieb er Stücke, inszenierte Programme fürs "Krüppel-Cabaret", eine Münchner Behinderten- und Nicht-Behindertentruppe. Doch dann wollte er selbst auf die Bühne, wollte nicht nur Kopf sein, sondern auch Körper. Anlässlich der "Woyzeck"-Premiere im Herbst vergangenen Jahres schrieb die "Neue Zürcher Zeitung" über ihn: "Peter Radtke kennt die Menschen, wie das nur einer kann, der sie naturgegeben herausfordert: Seine Erscheinung nämlich schlägt unserer Vorstellung von Normalität ins Gesicht."

Die Diagnose lautet: Osteogenesis imperfecta. Glasknochenkrankheit. Das bedeutet: Leicht wie Glas brechen die Knochen dieses Menschen, bei jeder falschen Bewegung kann es passieren. Peter Radtke sagt: "Meine Kindheit war sehr schmerzhaft wegen der vielen Knochenbrüche. Aber insgesamt sehr schön." Er sagt auch: Die Glasknochen-Menschen seien oft mit einem besonders heiteren Gemüt ausgestattet, Depressive unter ihnen finde man kaum. Geboren ist er im Jahr 1943, im "Tausendjährigen Reich" der Nazis. Hätte seine Mutter den kleinen Peter in ein Heim gegeben, wie ihr nahegelegt wurde, wäre er höchstwahrscheinlich der Nazi-Ideologie zum Opfer gefallen. Aber seine Mutter versteckte ihn gewissermaßen vor dem Zeitgeist - und so wurde was aus ihm. Er studierte Germanistik und Romanistik, machte seinen Doktor in Philosophie. Neben seinem Engagement im Theater und Kabarett engagierte er sich frühzeitig in verschiedenen Behinderten-Organisationen. Er ist seit vielen Jahren Leiter der "Arbeitsgemeinschaft Behinderte in den Medien".

Und er war immer auch so etwas wie der Frontmann der bundesdeutschen Behindertenbewegung. Das Magazin der "Süddeutschen Zeitung" druckte kurz nach dem Attentat auf Wolfgang Schäuble ein spektakuläres Gespräch zwischen Radtke und Schäuble, in dem sie sich unter anderem darüber unterhielten, welchen Rollstuhl man am besten fährt und dass man in diesen Dingern so verdammt oft friert. Man konnte das Treffen auch so verstehen: Radtke begrüßt Schäuble, welcome in the club. Aber vor allem musste Peter Radtke immer ran, wenn es in der Sache brenzlig wurde. Er diskutierte im Fernsehen mit Julius Hackethal, dem Arzt, der in den 70er und 80er Jahren die aktive Sterbehilfe zum Thema machte. Seine These war, man dürfe, man müsse vielleicht sogar nicht mehr lebenswertes Leben beenden. Radtke stellte sich Peter Singer, dem australischen Medizin-Philosophen, der in den 80er und 90er Jahren eine Euthanasie-Diskussion einforderte. Sei es nicht sozusagen Bürgerpflicht, fragte Singer sinngemäß, darüber nachzudenken, wann ein Leben seine Existenzberechtigung verliere?

Peter Radtke saß in diesen Runden wie ein Ffleisch gewordenen Argument, gegen das nur äußerst schwer anzukommen war. Er wirkte ruhig und präzise, bevor er dann irgendwann zum Kern des Streits kam. Ich, Peter Radtke, sitze hier in meinem Rollstuhl mit meinem gebrochenen Körper, bin glücklich verheiratet seit vielen Jahren, bin erfolgreich und sehr gerne in meinen Berufen tätig, habe Spaß am Reisen und Leben - und Sie, Herr Singer, Herr Hackethal oder wie sie alle heißen, wollen mein Recht auf Leben anzweifeln? Radtke sprach vom Wert des Prinzips Leben und davon, dass Glück eine Frage der Perspektive sei und dass niemand sich einbilden dürfe, über andere Leben zu urteilen. Und er erzählte, dass er seiner Behinderung viel zu verdanken habe, "gerade deshalb habe ich Erfolg", keine Ahnung, was aus ihm geworden wäre, als Gesunder, als so genannter Gesunder.

Das Jahr 2000. Und jetzt? Müde geworden, mit seinen inzwischen 57 Jahren? Nein, keine Spur, sagt er und blitzt mit seinen blauen Augen, als hätte gerade eine Theateraufführung begonnen. Aber woher dann dieser Anflug von Resignation? Radtke sagt, sein aktueller Pessimismus habe nichts mit den dramatischen rechtsradikalen Gewalttaten in Ostdeutschland zu tun, deren Opfer häufig auch Behinderte sind. "Das alles ist ganz furchtbar und verabscheuungswürdig", sagt er. Aber weit mehr Angst habe er vor einem allgemeinen Klima, "ich nenne es mal Utilitarismus. Alles wird danach beurteilt, wie nützlich es ist. Dieser Utilitarismus wischt gerade alles weg, jede Spur von Solidarität."

Die Illusion, dass Leid vermeidbar ist

Radtke redet vom Tod, oder besser: von der Abwesenheit des Todes in der Gesellschaft. "Man will ihn verdrängen, ich verstehe das ja auch. Wer hält das schon aus: Die Vorstellung, dass er stirbt?" Und es gehe weiter: Keiner möchte krank sein, keiner traurig, "verstehe ich auch alles, will ich auch alles nicht sein". Dazu die Botschaft: Erfolg ist das, was zählt. Dazu der wissenschaftliche Fortschritt in der Gentechnik. Plötzlich ist die Hoffnung da, die Illusion, dass Leid vermeidbar ist, dass Glück vielleicht bald eine Frage der richtigen Mixtur in einem Reagenzglas ist. Er möchte die Gentechnik nicht verteufeln, "verstehen Sie mich nicht falsch, da passiert viel Verdienstvolles". Es gehe ihm um die Addition all dieser Faktoren: Plötzlich mache man der Mutter eines behinderten Kindes Vorwürfe, wie konnten Sie nur zulassen, dass ein solch armes Wesen zur Welt kommt? Peter Radtke sagt, ob ein Leben lebenswert sei, habe schon auch damit zu tun, was eine Gesellschaft für lebenswert erklärt und was nicht. "Wenn dir dauernd vermittelt wird, dein Dasein sei eigentlich ein Fehler, dann wird es eng."

Vielleicht spürt Peter Radtke diesmal auch, dass in dieser Diskussion auch eines seiner Hauptargumente nichts nutzt: Seine Anwesenheit, sein Leben, seine Kraft. Klar ist er eindrucksvoll, klar zollt man ihm Respekt, darüber sind sich die allermeisten wohl einig. Aber würde es rein theoretisch etwas an der Entscheidung junger Eltern ändern, wenn sie noch in der Schwangerschaft erführen, ihr Kind leide vermutlich an der Glasknochenkrankheit? Und wenn der Arzt dann hinzufügt: Es sei jetzt ihre Entscheidung, ob dieses Kind leben soll oder nicht ...

Radtke sagt, er glaube nicht an die Wirkung von Appellen, "sowas wie: Vergesst die Solidarität nicht!". Die Menschen müssten begreifen, dass diese Entwicklung weitergehe. Erst seien die Behinderten dran, danach kommen die Dicken, dann die nicht so Klugen. In diesem Erkennen sehe er die einzige Chance. Sagt er. Klingt interessant und wahr. Und dennoch wirkt er, als er das sagt, ein bisschen wie einer, der mit einem kaputten Eimerchen einen fundamentalen Waldbrand löschen möchte.

Radtke mag nicht resignativ wirken, er hasst das. Er spricht lieber vom Theater und seinen nächsten Rollen. Von George Tabori und all den anderen. Auf Berlin freut er sich, und dann will er das Buch Hiob mit anderen zusammen auf die Bühne bringen, "ein toller Stoff". So wie sie es machen, sagt er, wird es eine Geschichte werden ohne Happy-End.

Nun ja, man soll ja nicht in alles etwas hineininterpretieren.

Stephan Lebert

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