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Das im Jahr 1951 fertig gestellte Frankfurter Gebäude des Instituts für Sozialforschung an der Senckenberganlage.

© picture alliance/dpa/Frank Rumpenhorst

Philipp Lenhards „Café Marx“: Die Geschichte des Frankfurter Instituts für Sozialforschung

Jenseits von Horkheimer und Adorno: Der Historiker Philipp Lenhard betrachtet in einem lebendig erzählten Buch auch das Umfeld der mittlerweile 100 Jahre alten Institution.

Von Larissa Kunert

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Gibt es nicht schon genug Literatur über das Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS)? Dies könnte meinen, wer die Standardwerke von Martin Jay, Rolf Wiggershaus oder Helmut Dubiel kennt, denen der Historiker Philipp Lenhard, wie er im Vorwort zu „Café Marx“ schreibt, viel verdankt. Lenhard hat die Geschichte der 1924 gegründeten legendären Forschungseinrichtung trotzdem noch einmal aufgerollt.

Dafür wählt er den Ansatz einer „raum- und netzwerkgeschichtlichen Erzählung“: Jeweils kapitelweise geht es um teilweise ganz unterschiedliche Konstellationen von Personen, Werken, Ideen und Orten, die zusammen, folgt man der Formulierung des Autors, ein Universum bilden – das Universum des IfS, das mit der Frankfurter Schule eine der weltweit bedeutendsten philosophischen Denkrichtungen des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hat.

Lenhard gliedert dabei auch bisher wenig beachtete „Randfiguren“ in seine Darstellung ein – also die „vielen Mitarbeiter, Stipendiaten, Kooperationspartner, Verwaltungs- und Hausangestellte“, die alle auf die eine oder andere Weise zur Entstehung und Formung des Instituts beigetragen haben.

So liest man in „Café Marx“ nicht nur über den wegweisenden Philosophenkreis um Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, sondern wird auch mit den Biografien zahlreicher weiterer Personen aus ihrem Umfeld vertraut gemacht.

Etwa der von Hilde Weiss, die 1925 am IfS eine erstaunlich prophetisch klingende Dissertation zur Ideologie des Fordismus vorlegte, von Friedrich Braun, dem langjährigen Hausmeister des Gebäudes, der, nachdem die Institutsmitarbeiter nach Hitlers Machtergreifung ins Ausland geflohen waren, um seine Zukunft fürchten musste. Oder von Heinz Maus, einem ehemaligen Schüler Horkheimers, dessen Zeitschrift „Die Umschau“ in der Nachkriegszeit erstmals zentrale Texte der sogenannten Kritischen Theorie in Deutschland zugänglich machte.

Den Anfangspunkt der Monografie bilden der Erste Weltkrieg und die Novemberrevolution 1918/19 – Ereignisse, die die Weltsicht der späteren Institutsmitglieder stark prägen sollten, sie zu Marxisten werden ließen –, zum Schluss nimmt Lenhard die aktuellen Ausläufer der Frankfurter Schule im In- und Ausland in den Blick.

Dazwischen: Institutsgründung und -finanzierung durch den schwerreichen Sozialisten Felix Weil, zahlreiche Diskussionen innerhalb und außerhalb der Uni, Schwerpunktverlagerung von der Sozial- und Geschichtswissenschaft zur Philosophie, Emigration nach New York, Diaspora, Holocaust, das Verfassen der „Dialektik der Aufklärung“ in Kalifornien, Rückkehr in das Land der Täter, Studentenunruhen, Adornos Blütezeit und Horkheimers Hinwendung zum Konservatismus sowie eine neue, zweite Generation der Frankfurter Schule.

Zäsur des Holocaust

Die Geschichte des Instituts und seiner Mitglieder über mehrere Kontinente und Jahrzehnte hinweg, die wegen der Zäsur des Holocaust fast wie Jahrhunderte erscheinen, ist zweifellos an sich schon eindrücklich.

Lenhard bereitet zudem die ihm vorliegenden Quellen zu einer so mitreißenden Erzählung auf, dass man das Buch nur schwer aus der Hand legen kann. Dies gelingt etwa dadurch, dass er jedem Kapitel eine im Präsens geschilderte Szene voranstellt, die Lesende geradewegs ins Geschehen katapultiert: etwa ins Wohnzimmer der Institutsmitarbeiter Richard und Christiane Sorge, wo ein sowjetischer Komintern-Vertreter „pausenlos Erdnüsse in sich hineinstopft und die Schalen achtlos auf den Boden wirft“, oder ins Büro Horkheimers in der Genfer Zweigstelle des IfS, wo der Institutsdirektor gerade am Schreibtisch sitzt, während sein Freund Friedrich Pollock „im Hintergrund Kisten hin- und herschleppt“, stets gefolgt von Horkheimers Hund, einem „weißen Berghund-Pudel-Mix mit wolligem Fell, Knopfaugen und Schlappohren“.

„Café Marx“, benannt nach einer von Freunden wie Feinden gebrauchten Bezeichnung für das Institut, das eben – besonders in seiner Anfangszeit – hauptsächlich Marxisten anzog, ist dabei nicht nur eine Darstellung gleichsam äußerer Entwicklungen, sondern auch eine Geschichte der Philosophie selbst.

Ob Horkheimers Kritik an G. W. F. Hegels Totalitätsbegriff, Diskussionen um das Verhältnis von Wertsubstanz und Wertgröße im Marx’schen „Kapital“ oder Franz Neumanns Konzeption des nationalsozialistischen Staats als „Behemoth“, als eine totalitäre Form des Monopolkapitalismus: Lenhard fasst auch sehr abstrakte Theoreme verständlich zusammen und verknüpft sie jeweils mit den Bedingungen ihrer Entstehung.

So bekräftigt dieses Buch letztlich eine zentrale Einsicht der Frankfurter Schule: Dass nämlich Theorie nie im luftleeren Raum entsteht, sondern immer von konkreten historischen Umständen und Personen abhängig ist.

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