
Neue Pop-Tipps aus Berlin: Spreelectro: Jahrzehntelang aufgebaute Genregrenzen einreißen
In unserer Serie "Spreelectro" stellt der DJ und Musikjournalist Martin Böttcher Gutes aus der Hauptstadt vor. In dieser Folge erklärt er, warum die ehemalige Minimal-Techno-Streiterin "Dinky" Julio Iglesias immer näher kommt und warum es sich lohnt, Genregrenzen einzureißen.
Dinky – Dimension D (Label: Visionquest)
Schade, dass Alejandra Iglesias ihren bürgerlichen Namen gegen den Künstlernamen Dinky (früher: Miss Dinky) eingetauscht hat. Man könnte sonst nämlich Witze machen, dass sie ihrem berühmten Namensvetter Julio immer näher kommt. Dinky, einst als Minimal-Techno-Streiterin gestartet, wird mit den Jahren nämlich immer poplastiger und songorientierter. Aber bevor man jetzt auf falsche Gedanken kommt: Die Wahl-Berlinerin mit chilenischen Wurzeln Dinky hat so gar nichts Schnulziges an sich, ihre Songs schlagen mal in Richtung Track, mal in Richtung Pop aus. Leicht melancholisch, wie sich das für eine Musikerin im Exil gehört, und auf diesem Album sehr eingängig und melodisch. Das beste dann zum Schluss: Ein Hidden Track auf der CD, der vermuten lässt: Wenn Dinky wollte, könnte sie tatsächlich ein echter Popstar sein.
Siriusmo – Enthusiast (Label: Monkeytown Records)
Vor drei Jahren schrieb ich schon einmal über Moritz Friedrich alias Siriusmo, einen ehemaligen Punk, Illustrator, Stuckateur. Schon damals war klar: Der mag zwar irgendwie schüchtern sein, aber ist eben auch ein vom Sound besessener Produzent. Seine Tracks waren schon immer kleine oder große Wundertüten, bei denen man nie vorher wusste, was einen erwartet, er arbeitete sich die ganzen Spielarten der elektronischen Musik durch und schlug sich quasi nebenbei an Pop und Hip Hop den Bauch voll. Auf „Enthusiast“ ist das nicht anders, aber er hat sich trotzdem weiterentwickelt, der Berlin Beatmeister: Bei allen Hü- und Hottsprüngen zieht sich nämlich ein unglaublich warmer, dichter Sound durch alle Tracks, egal, ob die nun schnell oder langsam, euphorisch oder gedämpft, satt oder hungrig angelegt sind. Kein Wunder, dass selbst Snoop Dogg (oder Snoop Lion oder wie auch immer der kiffende Hip-Hop-Star sich nun nennt) Beats von Siriusmo haben wollte. Der ist nämlich mittlerweile auf einem Niveau, das nur wenige erreichen.
Patric Catani – Blingsanity (Label: Keep It Business)
Und noch so einer, der mit Terminator-artigen Beats radikal Hörgewohnheiten angreift: Patric Catani. Catani kommt aus dem Hip Hop, man kennt ihn vielleicht als einen der Produzenten, der für die Pupppen-Rapper „Puppetmastaz“ am musikalischen Bett gebastelt hatte, aber er ist seit Mitte der 90er unter mindestens einem halben Dutzend weiterer Pseudonyme und mit jeweils anderem Grundsound unterwegs. „Blingsanity“ ist für mich Catanis Meisterstück: Die Tracks sind bester Beweis dafür, dass das aufregende Ding im Moment darin besteht, jahrzehntelang aufgebaute Genregrenzen einzureißen. Catani macht das, dabei entwickeln seine Stücke aber einen echten Funk (ohne jetzt James-Brown-mäßig Funk zu sein). Vielleicht kann man es so beschreiben: Musik mit der Kraft einer Profi-Bohrmaschine und dem Sog eines 100-köpfigen Streichorchesters. Oder so: Catani lässt es rummsen und zwar richtig gut.