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Oliver Steidle kam 1975 in Nürnberg zur Welt. Seit 2001 wohnt er in Berlin.

© privat

Porträt des Drummers Oliver Steidle: Anarchie ist Energie

Oliver Steidle ist derzeit einer der gefragtesten Jazz-Schlagzeuger. Jetzt spielt er mit den Killing Popes beim X-Jazz-Festival.

Um sechs Uhr geht es los: Er weckt seine Tochter, macht Frühstück und fährt sie zur Schule. Dann rasch zurück, ein paar E-Mails schreiben, den Sohn zur Kita bringen. Ein wenig aufräumen, die Wäsche machen, Dinge organisieren und schließlich fünf bis sechs Stunden Arbeit im Probenraum. „Und um elf falle ich ins Bett. Das ist ein relativ normaler Tag“, sagt Oliver Steidle und lacht. Ein Tag, an dem der Schlagzeuger nicht auf Tournee ist, um auf einer Bühne seine Idee von zeitgenössischem Jazz zu demonstrieren. Was er im Jahr bis zu 150 Mal tut. Seitdem der gebürtige Nürnberger Anfang der nuller Jahre in der Berliner Szene auftauchte, ist er unermüdlich aktiv und hat als Teil einer neuen Musikergeneration dazu beigetragen, die Stadt zum kreativen Mittelpunkt des neuen Jazz zu machen. Mindestens in Europa. Vielleicht sogar weltweit.

„Die Szene war schon immer interessant“, sagt Steidle. In der Stadt arbeiteten lauter Querköpfe, die ihr eigenes Ding machen wollten. Selbst das Mekka des Jazz, New York, wo er Ende der Neunziger ein paar Monate verbrachte, um bei Größen wie Ralph Peterson Unterricht zu nehmen, verblasse gegenüber Berlin. „Zu meinem Erstaunen finde ich die New Yorker Szene relativ konservativ“, meint Steidle, der mit seiner Familie in Neukölln wohnt.

Als Junge mag er Punk und Metal, zum Jazz kommt er spät

Dass er einmal einer der gefragtesten Jazzschlagzeuger werden würde, war dem jungen Oliver nicht vorbestimmt. Er wurde 1975 in eine Familie geboren, in der Musik keine Rolle spielte. „Mit sechs Jahren habe ich Neue Deutsche Welle gehört“, sagt er. Die Musik habe ihn „gekickt“ und nicht mehr losgelassen. Mit sieben lernt er Klavier, mit elf wechselt er zum Schlagzeug. „Ich war bestimmt kein geborener Drummer“, sagt er, aber das Klischee stimme doch irgendwie: „Schon als ganz kleines Kind habe ich mit Löffeln auf irgendwelche Töpfe geknallt.“

Der Jazz tritt erst spät in sein Leben. Für den Jungen ist das „intellektueller Schrott“. Steidle mag Punk und Metal. Bands wie Slayer, deren Drummer Dave Lombardo ein wichtiger Einfluss ist. Doch je länger der Teenager in Bands spielt, desto mehr interessieren ihn komplexere Strukturen und er landet beim Jazz. Für Steidle ist das eigentlich kein dramatischer Bruch. „Ich bin kein Purist“, meint er. Und was die anarchischen Ausdrucksmittel und die Energie betreffe, da gebe es etwa zwischen Heavy Metal und Free Jazz auf jeden Fall viele Überschneidungen und Übereinstimmungen.

Der Anfang in Berlin ist hart

Neben Dave Lombardo sind es Schlagzeuger wie der Led-Zeppelin-Dampfhammer John Bonham, Stewart Copeland von The Police oder der einst für John Coltrane trommelnde Elvin Jones, die Steidle faszinieren und beeinflussen. Er wächst aber auch mit Hip-Hop auf und ist begeistert von stundenlangen Techno-Raves. Steidle gehört damit zu einer neuen Generation von Jazzmusikern, die nicht nur brav die große Tradition studieren und sich innerhalb der Konventionen bewegen, sondern wieder auf die populären Klänge hören.

Nürnberg wird zu eng für seine Ideen. 2001 geht der Schlagzeuger nach Berlin. „Ich hatte damals so eine Energie: Für mich war klar, ich geh da jetzt hin und stürme die Szene. Es ist das Einzige, was ich machen will. 1000 Prozent!“, sagt er. Vornehmlich in Neukölln wird damals in zahllosen informellen Clubs jede Nacht der Jazz neu erfunden. Die Stadt zieht immer mehr internationale Musikerinnen und Musiker an, die zumeist unter prekären Bedingungen arbeiten, aber das Flair der Hauptstadt und die vielen Auftrittsmöglichkeiten schätzen. „Geld verdienen, das hat mich erst mal überhaupt nicht interessiert.“ sagt Steidle. „Ich wollte einfach alles aufsaugen, was es gibt. Wollte daraus mein eigenes Ding formen.“ Die ersten Jahre waren hart, gibt er zu. Um zu überleben, spielt er in einer Tanzkapelle. Eine gute Erfahrung, die Spaß gemacht habe und bei der er durchaus einiges gelernt habe: „Einen Abend lang für eine Hochzeitsgesellschaft zu spielen und die zum Tanzen zu bringen, das ist schon eine Herausforderung.“

Seine überbordende Kreativität befeuert diverse Bands und Projekte

Damals verdient er 500 Mark bei so einem Gig. Verlockend. Und genau deshalb hört er auf, weil „ich merkte, dass es für mich schwieriger wurde, mit 20 Mark Gage aus dem b-flat nach Hause zu gehen“. Drei Jahre haust Steidle in einem Sieben-Quadratmeter-Zimmer. Er versucht, einfach nur zu spielen, sein Ding zu machen. In der Band des Bassklarinettisten Rudi Mahall Der Rote Bereich vermag er sich schließlich zu etablieren. Das Trio wird viel gebucht, es gibt jede Menge Arbeit. Und Oliver Steidle gründet seine eigenen Ensembles: SOKO Steidle, Oliwood, Die Dicken Finger; er spielt mit dem Free-Jazz-Monument Peter Brötzmann und den jungen Wilden der Berliner Szene.

Die vielen Bands und Projekte sind Ausdruck einer überbordenden Kreativität und nicht etwa ökonomisch begründet, sagt Steidle. Und dass es manchmal vielleicht auch etwas zu viel würde, wie etwa im letzten Jahr, als er in zwei Monaten gerade mal vier Tage zu Hause war. Aber natürlich geht es immer weiter. Zum fünften X-Jazz-Festival, das von Mittwoch bis Sonntag in Berlin stattfindet, kommt Oliver Steidle mit seiner Band Killing Popes. Eine Formation, die seit ihrer Gründung viele Umbesetzungen erlebt hat und in der jetzt neben Steidles altem Lehrer aus Nürnberg, Gitarrist Frank Möbus, auch der viel gepriesene britische Keyboarder Kit Downs mitwirkt. Hier fließt vieles zusammen, was für Steidle prägend war und typisch ist. Wie der Name andeutet, wird die Band von einem aggressiven Grundton getrieben, wobei sie den fiebrigen Fusion-Hip-Hop eines Flying Lotus, mit Grind-Core- und Death-Metal-Einflüssen verbindet. Und immer dann, wenn sich die Hörerinnen und Hörer ein wenig in dieser Musik eingerichtet haben, zerschlagen die Killing Popes die gerade aufgebauten Strukturen wieder. Nichts ist sicher vor ihrer anarchischen Energie.

X-Jazz-Festival, 9. bis 13. Mai, Killing Popes: 12. Mai, 18 Uhr, Privatclub, weitere Infos hier.

Andreas Müller

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