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Yi-Chen Lin wurde in Taipei geboren und ist in Wien aufgewachsen.

© promo

Die Dirigentin Yi-Chen Lin: Karriere mit dem leichtesten Instrument der Welt

Yi-Chen Lin ist seit Oktober 2020 Kapellmeisterin an der Deutschen Oper Berlin. Jetzt leitet sie dort ihre erste Premiere

Schon im zarten Alter von vier Jahren beginnt sie mit dem Geigenunterricht bei ihrem Großvater, bald kommen auch Klavierstunden hinzu. Und weil sich Yi-Chen Lin in beiden Fällen als außergewöhnlich begabt erweist, wird sie als Neunjährige zur Vorbereitungsklasse der Wiener Musikhochschule zugelassen.

Als Teenager tritt sie oft mit ihrer Schwester auf, die musikalisch ebenfalls zweigleisig fährt: Mal spielt die eine die Violine und die andere begleitet am Flügel, mal ist es umgekehrt. Letztlich aber entscheidet sich die 1985 in Taipei geborene und in der österreichischen Hauptstadt aufgewachsene Musikerin dann doch für „das leichteste Instrument der Welt“.

Wenn Yi-Chen Lin den Begriff gebraucht, ist er natürlich doppeldeutig gemeint. Rein vom  Gewicht her betrachtet, ist der Taktstock tatsächlich nicht zu unterbieten. Da sich jedoch mit dem schlanken Stab selbst keine Töne erzeugen lassen und er dennoch die faszinierende Vielfalt eines ganzen Orchesters entfesseln soll, hat eine Dirigentin zugleich auch den komplexesten Job in der Klassik-Szene.

„An Abenden, an denen es gut läuft, ist es wirklich leicht“, sagt Yi-Chen Lin. „Weil ich mich dann von den anderen getragen fühle.“ Damit es so weit kommen kann, ist aber harte Arbeit nötig. Die fängt mit dem einsamen Partiturstudium an und wird kaum leichter, wenn es in den Proben dann darum geht, die eigenen Gedanken zum Werk den übrigen Beteiligten zu vermitteln.

Beim Probedirigat überzeugt sie sofort

Yi-Chen Lin gelingt das zum einen durch ihre extrem präzise Dirigiertechnik. Und sie hat außerdem die Gabe, ihre Idee und Korrekturvorschläge so zu formulieren, dass die Musiker:innen sofort verstehen, worauf es ihr ankommt, berichtet Jörg Königsdorf, der Chefdramaturg der Deutschen Oper. Er war dabei, als sich Lin um die Stelle der Kapellmeisterin und Assistentin des Generalmusikdirektors beworben hat. Ohne zuvor die akustischen Bedingungen des Saals austesten zu können und ohne das Orchester zu kennen, musste sie aus dem Stand eine Probe leiten – und überzeugte das Leitungsteam des Charlottenburger Musiktheaters durch ihre Professionalität.

Im Oktober 2020 konnte sie an der Deutschen Oper starten – und wurde sofort wieder ausgebremst, vom zweiten Corona-Lockdown. Bei 20 Aufführungen diverser Repertoireproduktionen von „La Traviata“ bis „Madame Butterfly“ hätte sie in der vergangenen Saison eigentlich im Graben stehen sollen, doch erst jetzt findet ihr offizielles Debüt an der Bismarckstraße statt.

Am 27. August leitet sie die Premiere von Mark-Anthony Turnages „Greek“. In dem 1988 uraufgeführten Stück wird der antike Mythos von König Ödipus ins Arbeitermilieu des Londoner East End katapultiert, in der kraftvollen Partitur des damals erst 28-jährige Komponist finden sich sowohl Einflüsse von Igor Strawinsky und Leos Janacek als auch von Jazz und Hiphop.

Ihr Debüt gab sie im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins

Die Produktion findet unter freiem Himmel statt, auf dem Parkdeck der Deutschen Oper, dessen Akustik aber überraschend sängerfreundlich ist, wie Yi-Chen Lin betont. Das „Greek“-Orchester ist nur klein besetzt, doch die 18 Musiker:innen dürfen neben ihren eigentlichen Instrumenten auch noch jede Menge Perkussionsgeräte wie Trillerpfeifen, Ratschen, Mülltonnendeckel, Metallstangen oder Peitschen bedienen, was allen großen Spaß macht.

Nach dem Dirigierstudium und ihrem Abschlusskonzert mit dem ORF-Orchester im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins hat sich Yi-Chen Lin schnell auf Musiktheater spezialisiert. Zum Mentor wurde ihr dabei Alberto Zedda. In einer Produktion im spanischen Valencia, wo die junge Absolventin als Geigerin im Orchester spielte und gleichzeitig Korrepetitorin beim Opernstudio war, ließ sie Zedda ein Video zukommen, das sie als Dirigentin zeigt.

Daraufhin lud sie der Altmeister spontan zu seinem Rossini-Festival in Pesaro an der Adria ein, wo sie die Oper „Il viaggio a Reims“ leiten durfte. „Diese Aufführung hat mir viele Türen geöffnet“, sagt Lin. Zuerst konnte sie am Opernhaus auf Teneriffa eine Produktion übernehmen, dann in Bologna, später auch in mehreren spanischen Städten.  

Sie verkörpert die "Kapellmeister-Tugenden"

Als Yi-Chin Lin ihrem Agenten anvertraute, dass sie sich gerne ins Werk von Richard Wagner einarbeiten würde, erzählte der ihm vom Assistenzposten an der Deutschen Oper, wo eine Neuproduktion des „Ring des Nibelungen“ anstünde, geleitet vom Wagnerspezialisten Donald Runnicles. Beim Probedirigat in Berlin war sie schwanger, inzwischen kann ihre Tochter schon laufen. Mit ihrem Ehemann führt sie eine logistisch herausfordernde Fernbeziehung, denn er ist Konzertmeister beim Tonhalle Orchester in Zürich. Ihre Schwägerin immerhin arbeitet ganz in der Nähe, als Geigerin in Daniel Barenboims Staatskapelle. 

Yi-Chen Lin ist die zweite Dirigentin mit Festanstellung in Berlin. Die Pionierin auf diesem Gebiet war Kristiina Poska, die von 2012 bis 2016 an der Komischen Oper engagiert waren.

Wenn Lin über ihre künstlerischen Ziele spricht, bescheiden und ernsthaft, dann beschreibt sie genau das, was der frühere Musikchef der Deutschen Oper, Christian Thielmann, „Kapellmeister-Tugenden“ nennt. Genialisches Maestro-Gehabe ist ihre Sache nicht, sie strebt auch nicht danach, sich durch extremistische Interpretationen einen Karrierekick zu verschaffen. Eine Vermittlerin möchte sie sein, sowohl zwischen Bühne und Orchestergraben als auch zwischen Künstler:innen und Publikum. Die Aufgabe eines Dirigenten oder einer Dirigentin, findet Yi-Chen Lin, ist es „so gut wie möglich zu ergründen, was der Komponist mit seiner Musik ausdrücken wollte“. Nicht sich selbst will sie darum in den Vordergrund stellen, sondern die Partitur: „Da gibt’s genug zu tun.“

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