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Kultur: Prophetischer Eifer

Während Christopher Hogwood an der Berliner Deutschen Oper die inszenierte Matthäus-Passion leitete, dirigierte in der Philharmonie Michael Gielen eine "normale" Version von Bachs oratorischem Hauptwerk.Doch was heißt schon normal, stellt doch die konzertante Aufführung in einem bürgerlichen Konzertsaal, wie sie seit Felix Mendelssohn Bartholdys Berliner Wiederentdeckung des Werkes im Jahre 1829 üblich geworden ist, auch eine Transformation der liturgisch konzipierten Komposition dar.

Während Christopher Hogwood an der Berliner Deutschen Oper die inszenierte Matthäus-Passion leitete, dirigierte in der Philharmonie Michael Gielen eine "normale" Version von Bachs oratorischem Hauptwerk.Doch was heißt schon normal, stellt doch die konzertante Aufführung in einem bürgerlichen Konzertsaal, wie sie seit Felix Mendelssohn Bartholdys Berliner Wiederentdeckung des Werkes im Jahre 1829 üblich geworden ist, auch eine Transformation der liturgisch konzipierten Komposition dar.

Gielen nahm sich bei dieser Aufführung erstaunlich zurück: er spielte die Rolle des zurückhaltenden Koordinators, des Sachwalters, der Bach kenntnisreich zu seinem Recht verhilft.Mit dem von Robin Gritton hervorragend präparierten Rundfunkchor Berlin und den Musikern des Deutschen Symphonie-Orchesters standen ihm dabei erstklassige Künstler zur Seite.Neben Thomas Quasthoff und Christine Schäfer, die die Baß- und Sopranpartien bravourös meisterten, wiesen Kurt Azesberger als Evangelist und John Bröcheler als Jesus jedoch eklatante stimmliche Mängel auf.Azesberger besitzt keinerlei Höhe: seine Stimme spricht nicht an, ist brüchig, der Wechsel zwischen Kopf- und Bruststimme unkontrolliert.

Gerade diejenigen Stellen, an denen Bach die scheinbar objektive Rolle des Berichterstatters aufgibt und den Evangelisten zum Mitleidenden macht (beispielsweise zu Beginn der Gethsemane-Szene: "Und fing an zu trauern und zu zagen"), mißlangen total.Daß Azesberger trotz dieser Mängel als Spezialist gerade für Bachs hohe Evangelisten-Rollen gilt, ist rätselhaft.John Bröcheler wiederum verkündete mit schier prophetischem Eifer die Worte Jesu in durchgehendem Fortissimo, was jegliche Detailgestaltung von vornherein unterband.Da waren die mit dem Rundfunkchor wunderbar präzis erarbeiteten Chöre und Choräle echte Erholungsmomente, die durch wohlüberlegte Gestaltung in Tempo, Phrasierung und Dynamik ebenso überzeugten wie die wunderbaren Instrumentalsoli aus den Reihen des Deutschen Symphonie-Orchesters.

Thomas Quasthoffs Baß-Arie "Mache dich, mein Herze, rein" machte gegen Ende der Aufführung noch einmal so richtig klar, was gepflegte Gesangskultur ist: fließende Linien, perfekte Klanggebung, Artikulation und Phrasierung.Daneben blieben auch Cornelia Kallisch (Alt) und Markus Schäfer (Tenor) blaß.

So stand in dieser Aufführung Großartiges, Rührendes und Bewegendes neben Unterdurchschnittlichem, so daß insgesamt ein zwiespältiger Eindruck blieb.Es ist, wie Hans Blumenberg einmal formuliert hat, ein Paradox, daß die Matthäus-Passion "den Höhepunkt ihrer Verbreitung und der Vielfalt ihrer Auffassungen und Aufführungen in einer ihren Inhalten entfremdeten Zeit erreicht." Doch vielleicht macht gerade das die Aktualität dieses zutiefst ethischen Werkes aus, das die Philharmonie bis auf den letzten Platz füllte.

GREGOR SCHMITZ-STEVENS

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