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© dpa

Pulitzer-Preisträger Junot Díaz: "Rassismus basiert auf Fiktionen"

Junot Díaz über Gewissensnöte, seinen pickeligen Romanhelden und die Dominikanische Republik.

Senor Díaz, seit der Veröffentlichung Ihres gefeierten Debüts, dem Erzählungsband „Abtauchen“, sind elf Jahre vergangen. Was hat Ihnen während der Arbeit an Ihrem ersten Roman „Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao“ am meisten zu schaffen gemacht?



Sie meinen neben der Tortur des Schreibens an sich? Die übersteigerten Erwartungen. Wir leben in einer Zeit, in der ein Autor mindestens alle ein, zwei Jahre ein Buch zu produzieren hat. Und obwohl es genug Schriftsteller gibt, die diesem Rhythmus gehorchen, verspürt man auch selber den Drang, das Ding endlich rauszubringen. Es ist angenehmer, alle ein, zwei Jahre ein bisschen Applaus zu kriegen, als zu riskieren, nach elf Jahren ignoriert zu werden.

Von Ihnen wurde nicht nur einfach das nächste Buch erwartet, sondern der definitive Roman über die Erfahrung der dominikanischen Immigranten in den USA.

Die Leute sagen einem dauernd, was man schreiben soll. Letztlich kann ich nur meine eigene kleine Geschichte erzählen über eine einzige verrückte Figur und eine verrückte Familie. Sicher, Sie erfahren in meinem Roman vielleicht auch etwas über die Geschichte der Dominikanischen Republik und das Leben einiger Dominikaner in den amerikanischen Suburbs. Aber so wenig wie ein deutscher oder französischer Roman Sie auf die Vielfalt der deutschen oder französischen Kultur vorbereitet, wird Ihnen mein Roman die Dominikanische Republik erklären. Du willst die Kultur der Dominikaner kennenlernen? Verbringe deine Zeit mit zehn Millionen Dominikanern.

Ihr Protagonist Oscar Wao ist ein dicker, ungeschickter, Bücher verschlingender Teenager, der sich nichts mehr wünscht als eine Freundin und von einer Zukunft als dominikanischer J. R. Tolkien träumt. Woher stammt die Idee zu dieser Figur?

Bei einer Party bei Freunden in Mexico City hob einer der Gäste ein Buch auf, Oscar Wildes „The Importance of Being Earnest“, und sagte zu mir mit seinem dicken mexikanischen Akzent: „Oscar Wao – mein Lieblingsschriftsteller!“ In diesem Moment war Oscar da – Abrakadabra!

Oscar ist das pure Gegenteil des stereotypen lateinamerikanischen Machos.

Oscar ist mein Anti-Dominikaner. Meine Art, nicht über mein Geburtsland zu sprechen.

Das tun Sie aber. Ein großer Teil Ihres Romans spielt in der Zeit unter der Diktatur von Rafael Trujillo.

Mir geht es um den Reiz und die Gefahren der Diktatur an sich …

… auch um die Diktatur des Autors? Ihr Erzähler scheint sich in dieser Rolle sehr unwohl zu fühlen.

Ich fand es nie angenehm, beim Schreiben derjenige zu sein, der alle Fäden in der Hand hält. Die wenigsten Leser sind sich bewusst, wie vollständig sie sich dem Autor ausliefern, wenn sie sich einmal dazu entschlossen haben, seiner Geschichte zu folgen. Egal, wie viele Perspektiven, Fußnoten und Metaebenen ein Roman enthält – es spricht immer nur eine einzige Stimme. Bei Krimis oder anderen Unterhaltungsromanen ist das vielleicht nicht so tragisch. Die lese auch ich zum bloßen Vergnügen. Aber ich stehe meiner Rolle als Erzähler weit ambivalenter gegenüber als viele andere Autoren.

Ist Literatur gefährlich?

Ich habe immer das Bild von den Kirchenglocken vor Augen, die im Krieg zur Herstellung von Bomben eingeschmolzen wurden. Als Erzähler schaffe ich die Formen für Glocken – oder für Bomben. Ich kann nicht kontrollieren, wofür meine Geschichte letztlich verwendet wird.

Wenn Sie schon Geschichtenschreiber für potenzielle Bombenmacher halten, welche Gefahr geht dann erst von Geschichtsschreibern aus?

Die Grenzen zwischen Fiktion und Geschichte sind verschwommener, als wir zugeben wollen. Die Vorurteile etwa, die ganzen Volksgruppen entgegengebracht werden, beruhen hauptsächlich auf Fiktionen. Rassismus wird durch Fiktionen geschürt. Hinzu kommt, dass das westliche Denken Weiße als Individuen betrachtet und Farbige als Kollektiv – eine Folge von 300 Jahren Kolonisation. Ich sehe das jeden Tag: Diejenigen meiner Studenten, die gedankenlos von „Schwarzen“ und „Asiaten“ sprechen, fühlen sich merkwürdig berührt, wenn man sie als „Weiße“ bezeichnet. Auch Farbige sprechen außer im Spaß nie von „Weißen“. Es ist wie bei Harry Potter: Den Namen des Bösewichts kann man nicht einmal aussprechen. Man braucht nicht Michel Foucault zu lesen, um zu wissen, dass Macht Unsichtbarkeit produziert. Je mehr Macht man hat, desto unsichtbarer und normativer ist man.

Oscar ist ein doppelter Außenseiter. Er ist weder ein „Weißer“ in den USA noch ein typischer Dominikaner. Ist das der Grund, weshalb er sich in Fantasy und ScienceFiction flüchtet, jene Literaturgattungen, die radikalste Gegenwelten entwerfen?

Ich war in meiner Kindheit und Jugend besessen von „Star Trek“, Comics, Rollenspielen und abseitigen Filmen, genau wie Oscar. Aber mir ist nicht ein einziges Mal eine Gegenwelt begegnet, die so radikal war, dass die Helden in ihr Dominikaner waren oder Dominikaner darin überhaupt irgendeine nennenswerte Rolle spielten. Weder dicke, pickelige Dominikaner wie Oscar noch südamerikanische Schönheitssymbole. Heute ist der meiste Fantasystoff sogar noch schwächer. Es ist immer noch wie bei „Out of Africa“ und Isak Dinesen: Die Protagonisten sind weiß, auch wenn sie in Gestalt von Aliens daherkommen, und um sie herum rottet sich ein farbiger Mob zusammen.

Warum versuchen Sie sich nicht mal in dem Genre?

Ich habe keine Ahnung, was ich als Nächstes schreiben werde. Vermutlich keine Kurzgeschichten mehr. Kurzgeschichten können theoretisch perfekt sein. Das macht die Form so attraktiv, aber auch ungeheuer schwierig. Ein Roman ist nie perfekt. Ein Roman kann und darf wunderbar, unterhaltsam und klug sein und dennoch viele Fehler haben – wie ein Mensch.

Das Gespräch führte Sacha Verna.

Zur Person: Junot Díaz, 1968 in der Dominikanischen Republik geboren, wuchs in New Jersey auf und unterrichtet heute kreatives Schreiben. Sein Erzählungsband „Abtauchen“ machte 1996 Furore, für seinen Roman erhielt er 2008 den Pulitzer-Preis. -

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