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Wer muss unbedingt nach Mauritius reisen? Der Mond scheint doch überall.

© Hans Blossey/imago stock&people

Reisen als Zwang: Warum in der Ferne leiden

Urlaub vom Urlaub: Valentin Groebner sinnt darüber nach, warum touristisches Reisen unglücklich macht.

Hunger ist ein guter Koch, heißt es. Einem Ausgezehrten kann man alles vorsetzen. Das Loch im Magen, mit welchen Delikatessen lässt es sich stopfen? Der hungernden Fantasie sind allerdings auch keine Grenzen gesetzt. Übertragen auf den Ausnahmezustand, in dem die Welt sich seit März befindet, mit länderspezifischen Ausgangssperren und umfassenden Reiserestriktionen, rätselte wohl schon manch heimisolierter Globetrotter: Wo will ich hin, wenn ich endlich wieder darf? Ist der Lockdown also ein guter Urlaubsplaner? Oder wird Reisen nie mehr dasselbe sein wie vor Corona?

Den in Luzern lehrenden österreichischen Historiker Valentin Groebner treiben diese und andere Fragen zum Tourismus schon länger um, als die Tagesaktualität es gebietet. Die Arbeit an seinem Essay „Ferienmüde“ begann deutlich vor Ausbruch der Coronakrise, hinter die seine Analysen weit zurückgehen.

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Die gerade einmal 250 Jahre alten Wurzeln des Reisens zu Vergnügungszwecken beleuchtet er dabei ebenso wie die rasanten Entwicklungen der Nachkriegszeit vom Massen- bis hin zum Übertourismus. 1,5 Milliarden Touristen waren 2019 auf der Suche nach dem Glück in der Fremde, dreißig Mal so viele wie 1975. In jedem Moment des vergangenen Jahrs befanden sich fast elf Millionen Passagiere an Bord eines Flugzeugs in der Luft. Die Branche boomte. Verunsichert durch den pandemiebedingten Stillstand sinniert auch sie jetzt: Quo vadis?

Saisonale Überbietung

Wohin das alles führen soll, darüber denkt Groebner nach. Anlass ist ein tief liegendes Unbehagen an der Tourismusindustrie. In saisonaler Überbietung versprechen die Reiseanbieter Regeneration für Leib und Seele und können bei aller Illusionskunst doch nicht verbergen, dass es längst nicht mehr um Entspannung geht. Stattdessen dominieren Statusdenken und Erlebnisstress.

Das Programm ist mit Fototerminen vor Panoramaidyllen, Museumsschlangen und exzessivem Restauranthopping mindestens so vollgepackt wie der Kalender, aus dem es eigentlich auszubrechen gilt. Diese Erfahrung machte Groebner selbst. Im Gegensatz zu anderen Professoren kokettiert er nicht damit, seine Ferien ausschließlich dafür nutzen zu wollen,das nächste Manuskript abzuschließen. Groebner reist gerne, nicht nur dienstlich, auch privat.

Bis sich eines Tages die Einsicht Bahn bricht, dass die Strapazen die Freuden überwiegen. Es beginnt die Ursachenforschung.

Hinter der Sehnsuchtspoesie der Tourismusbranche entlarvt Groebner, was die Sozialwissenschaft einen Superreplikator nennt. Dieser „verspricht die Erfüllung von Bedürfnissen, die er selbst erzeugt hat, und erzwingt so dauernde Wiederholung. Touristisches Reisen macht auf eine Weise unzufrieden, gegen die nur mehr Reisen zu helfen scheinen“. Es entsteht ein Kreislauf aus Alltag und Urlaub, die lediglich zwei Seiten derselben Medaille repräsentieren. Ein Phänomen, das sich neuerdings Work-Life-Balance schimpft.

Erfüllung aller Wünsche

Das Versprechen auf Wahrwerden aller Wünsche ist zugleich Gründungsmythos und Utopiepotenzial der Vergnügungsreise. Das gilt für die durchorganisierte Kreuzfahrt im Zickzack die norwegischen Fjorde entlang ebenso wie für den Achtsamkeitstrip mit Rucksack durchs vermeintlich menschenleere Patagonien. Das war immer so und früher keineswegs besser: „Schon die gute alte Zeit hat das Verschwinden der guten alten Zeit heftig beklagt“, weiß Groebner.

Den größeren Kontext skizziert der Ideenhistoriker mit Episoden aus den Abenteuern Michel de Montaignes oder Vasco da Gamas. Gleich das erste von sechs kurzen Kapiteln ist ein gelungener Abstecher in vergangene Zeiten, als die Strände – heutzutage hochglanzpolierter Inbegriff der Reiselust – noch Mülldeponien und Tierfriedhöfe waren. Der Kapumsegler da Gama feierte im indischen Kerala seinen Erstkontakt übrigens mit Spanisch sprechenden arabischen Händlern und nicht mit Local Natives, wie es die Entdeckerlegende will.

Die Schattenseiten des Tourismus, den erst Millionen unterbezahlter Dienstkräfte ermöglichen, adressiert Groebner ungeniert. Davon zeugt auch jene Anekdote, in der er von einer Auftragsarbeit für das Bordmagazin der Fluggesellschaft Condor berichtet. Man hatte von ihm einen kurzen Text über die Kanarischen Inseln, sicher aber nicht über deren Sklavereigeschichte erbeten, wie Groebner nach der süffisanten Rückmeldung der zuständigen Redakteurin einsehen muss.

Störung als Chance

Der Essay als Form kommt dem pointierten Stil und seiner schwer zu schlagenden Bonmotdichte merklich zugute. Subjektive Eindrücke oder Rollenprosa aus Sicht des Durchschnittstouristen verstoßen hier keineswegs gegen die strengeren Regeln der akademischen Fabulierunlust. Nur selten geraten die Spekulationen allzu aberwitzig. Wo er gegen Ende die „Störung als Chance“ begriffen wissen will, verallgemeinert Groebner allerdings fahrlässig.

Schließlich bedeutet ein durch Terminausfälle schrumpfender Kalender nur für diejenigen von uns eine Wohltat, deren Einnahmen oder Ersparnisse dabei nicht drastisch schrumpfen. Dafür aber, dass „Ferienmüde“ kein Schnellschuss ist, bindet das Büchlein die Chronik der vergangenen Monate bemerkenswert lässig in seine Betrachtungen mit ein. Gelungen ist Valentin Groebner eine clevere Lektüre für den bevorstehenden Urlaub auf Balkonien.
Valentin Groebner: Ferienmüde. Als das Reisen nicht mehr geholfen hat. Konstanz University Press, Göttingen 2020. 152 S., 18 €.

Maximilian Mengeringhaus

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