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Jürgen Habermas

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Jürgen Habermas über Glauben und Wissen: Religiöse Funken in einer säkularen Welt

„Auch eine Geschichte der Philosophie“: Jürgen Habermas vermittelt in einem Mammutwerk zwischen Glauben und Wissen.

Wozu brauchen wir noch Philosophie? Eine Frage, die so alt ist wie die Philosophie selber, die aber gegenwärtig wieder häufig zu hören ist. Brauchen wir nicht vielmehr spezialisierte Experten, die uns in einer unüberschaubaren Welt Auskunft über Ursachen und Folgen des Klimawandels, der neuen Atomwaffenbedrohung und möglicher Finanzkrisen geben? Die Philosophie scheint, obwohl sie sich etwa bei Fragen der Organspende erheblich bemüht, anwendungsbezogen zu sein, nicht die richtige Ansprechpartnerin zu sein. Zu allgemein, zu wenig wissenschaftlich, zu abgehoben. Nicht zuletzt wegen dieser Einschätzung schwebt über philosophischen Instituten an den Universitäten die stetige Drohung, eingekürzt oder ganz geschlossen zu werden.

Philosophie bleibt unverzichtbar

Dass Philosophen dafür wenig Verständnis aufbringen, versteht sich von selbst. Jürgen Habermas möchte nun in seinem jüngsten Werk „Auch eine Geschichte der Philosophie“ (Suhrkamp Verlag, zwei Bände, 98 €) etwa bei Fragen der Organspende gleich im doppelten Sinne zeigen, warum die Philosophie unverzichtbar ist. Zum einen können wir gar nicht verstehen, wer wir als Mensch sind, wenn wir uns nicht dafür interessieren, wie wir geworden sind und was wir sind.

Auf sagenhaften 1700 Seiten rekonstruiert Habermas mit spürbarer Lust daran, in die Vielfalt philosophischer Strömungen einzutauchen, wie sich Vorstellungen über Gleichheit und Ungleichheit, Gut und Böse, Gerechtigkeit und Ungerecht, von Vernunft und Unvernunft seit der Antike herausgebildet haben. Es ist zugleich die Geschichte eines manchmal friedlichen, meist aber gewalttätigen Scheidungskampfes, an dessen Ende sich die Philosophie sowohl von der Religion als auch von der empirischen Wissenschaft emanzipiert hat.

Grenzen der Erkenntnis

Zum anderen ist es gerade diese sich verselbstständigt habende Philosophie, die uns mit den Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit in einer nachmetaphysischen Welt konfrontiert – einer Welt, für die weder alles auf einen Gott bezogen ist noch die Ideen gegenüber der Materie Vorrang besitzen oder die Theorie mehr zählt als die Praxis. Wir mögen uns einbilden, in einer vollständig säkularen Welt zu leben, und sehen im religiösen Fanatismus eine fatale Regression. Fehlgeleitet ist der Fanatismus zweifellos, aber in seiner religiösen Ausprägung nicht etwa ein Rückfall in vormoderne Zeiten. Die Philosophie weist uns darauf hin, dass ein Triumph des säkularen Denkens ein grundlegendes Missverständnis wäre. Denn wir leben keinesfalls in einer rein säkularen Gesellschaft. Wenn man von der Staatsgewalt absieht, müssen religiöse Gehalte auch nicht vollkommen eingeklammert werden. Ganz im Gegenteil: Wir brauchen sie. Die Frage ist nur, wozu.

Diese Gedankengänge über die Rolle der Philosophie führen zur Kernfrage des Buches, wie nämlich mit dem Erbe der Religion umzugehen ist. Für Habermas ist dies kein neues Terrain. Schon in seine Dissertation über den Idealisten Schelling fanden religiöse Themen Eingang. Ihn faszinierte, dass Schelling die Geschichtlichkeit des Absoluten immer auch auf die Not menschlicher Existenz bezog, auf Schmerz, Zweifel und Zerrissenheit. Und Anfang der Nullerjahre verwies er in „Zeit der Übergänge“ darauf, dass unsere Vorstellungen von Freiheit, Solidarität und autonomer Lebensführung unmittelbar ein Erbe der jüdischen Gerechtigkeits- und der christlichen Liebesethik sind. Alles andere, schob er salopp hinterher, sei postmodernes Gerede. Es geht also nicht einzig und allein um eine Theorie der Säkularisierung, sondern darum nachzuweisen, dass sich religiöse Inhalte auch im Denken der Moderne niedergeschlagen haben.

Solidarität als Ressource

Sind wir also nie modern gewesen? Im Gespräch mit dem damaligen Kardinal Joseph Ratzinger räumt Habermas ein, dass auch unsere liberalen Gesellschaften auf die Solidarität ihrer Mitglieder angewiesen sind. Diese Ressourcen können im Prinzip auch ohne den Bezug auf Religion mobilisiert werden und aus politischer Überzeugung oder dem Vertrauen in unsere Verfassung stammen. Die Frage ist nur, wie lange das noch möglich sein wird. Denn es ist unverkennbar, dass die staatsbürgerliche Solidarität zerbröselt und die Bürger entweder zu wütend oder zu desinteressiert sind. Es liegt nahe, unter diesen Umständen auf die Religion zu blicken. Doch die kann nicht einfach die entstandene Lücke füllen. Nicht zuletzt, weil sie dann einfach für einen politischen Zweck vereinnahmt würde.

Aber ob es einem gefällt oder nicht, hat nach Ansicht von Habermas in den Religionsgemeinschaften etwas überlebt, was gesellschaftsweit verloren gegangen ist und weder durch Expertenwissen noch wissenschaftliche Studien ersetzt werden kann. Dazu gehört die Sensibilität für ein verfehltes Leben, für das Misslingen von Lebensentwürfen, das Leid anderer und zerrüttete Lebenszusammenhänge. Es ist diese Haltung zur tendenziell unwirtlichen Welt, die Religion auch für religiös Unmusikalische als eine wichtige Quelle für Sinnstiftung anbietet. Nicht mehr, denn die moderne politische Ordnung ist unwiederbringlich säkular geprägt. Aber auch nicht weniger, denn Religion hat ihren Platz auch in unseren Gesellschaften.

Lernprozesse für die Gesellschaft

Liegt aber nicht gerade in der Anerkennung dieser sinnstiftenden Ressource für alle Beteiligten eine Herausforderung, die mehr Probleme schafft als löst? In der Tat wird den religiösen Bürgern eine „asymmetrische Bürde auferlegt“, da sie lernen müssen, sich zu den Anforderungen eines demokratischen Verfassungsstaates und einer säkularen Gesellschaft zu verhalten. Für säkulare Bürger hingegen hat die Religion keine innere Berechtigung mehr und wird in Konfliktsituationen meist gar nicht als Beitrag ernst genommen. Beide Seiten müssen langwierige Lernprozesse durchlaufen, die – man denke an den Konflikt über Abtreibung, religiöse Symbole in öffentlichen Gebäuden oder Kopfbedeckungen in der Öffentlichkeit – viel Entgegenkommen abverlangen.

Damit scheint alles über die Rolle der Religion in der Moderne gesagt. Und doch fehlt ein wichtiger Mosaikstein. Irgendetwas nämlich muss offensichtlich beides, Religion und Philosophie, auch heute noch verbinden. Im neuen Opus magnum wird man fündig – wenn man bis zum Schluss des zweiten Bandes durchhält, bis zu den Stellen, an denen sich das Dickicht ineinandergeschlungener philosophischer und religiöser Wege lichtet. Während dieses Bindeglied in Zeiten der Metaphysik die rettende göttliche Gerechtigkeit war, fehlt ein solch eindeutiger Bezug heutzutage. Mit dem langen Gang durch die Philosophiegeschichte möchte Habermas nicht weniger zeigen, als dass es bereits seit der Achsenzeit, also um das 6. Jahrhundert vor Christus, in allen damaligen Hochkulturen, Buddhismus, Taoismus und antikes Judentum eingeschlossen, zu einer Entsakralisierung von Herrschaft kam.

Geschichte von Gewalt und Unterdrückung

Religion und Philosophie traten zwar auseinander, verabschiedeten sich von einer unübersichtlichen Anzahl göttlicher Mächte und entwickelten dualistische Weltbilder, geteilt in kirchliche und weltliche Herrschaft. Damit war aber zugleich der Grundstein für eine kulturübergreifende Vorstellung gelegt: die einer universalistischen vernünftigen Freiheit. Die Geschichte der Philosophie ist einerseits eine Geschichte von Gewaltherrschaft und Unterdrückung, zugleich aber auch eine der moralischer Lernprozesse, die zur Überwindung des Kolonialismus, der Abschaffung der Sklaverei, der Ächtung von Genozid, Ausbeutung und Unterdrückung führten.

Über Jahrhunderte hinweg von Philosophen unterschiedlich interpretiert, meint vernünftige Freiheit im Kern, dass wir Vernunftwesen sind, deren Leben einen offenen Zukunftshorizont besitzt. Vorher jedoch müssen wir uns in schmerzhaften Prozessen der Emanzipation von den konkreten Verhältnissen der Unterdrückung und Knechtung befreien. Ohne Kampf keine Freiheit – und ohne Pflicht, die moralischen Regeln der Freiheit einzuhalten, keine gesellschaftliche Integration. Während die Religion dem Menschen heilsame Rettung verspricht, sind wir in der säkularen Welt auf den Kampf um Freiheit zurückgeworfen. Es ist nun die Religion, die uns auch heute dafür sensibel macht, dass wir dem Sog des regressiven nachmetaphysischen Denkens (Adorno) nur entkommen, wenn wir an einem überschießenden Gehalt der Verpflichtung zur Freiheit festhalten. Eine permanente Erinnerung daran, dass Freiheit und Vernunft keine Ressourcen sind, die einfach da sind.

Verpflichtung zur Freiheit

Die Philosophie ist zwar nicht länger imstande, Antworten auf die großen Fragen zu geben. Aber wir brauchen sie, um zu sehen, dass wir Begriffe wie Gleichheit, Freiheit und Emanzipation ohne das Wissen ihrer Herkunft nicht verstehen. Noch wichtiger aber ist: Sie zieht die Grenze zwischen Glauben und Wissen, ohne dass sie weder völlig in dem einen noch dem anderen aufgeht. Auf diese Weise kann sie das Ganze kritisieren, auch wenn sie nicht alles im Blick haben kann. Darin ist die Philosophie Expertin.

Regina Kreide

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