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Debatte über Sprache und Geschlecht: Rettet das Kind vor der Verdinglichung!
Seit „Avenidas“ diskutieren wieder alle über geschlechtergerechte Sprache. Dabei wird dem sogenannten Kind keinerlei Beachtung geschenkt. Eine Glosse.
Stand:
Der, die, das – wieso, weshalb, warum? Völlig übergangen wird hier, mal wieder, das Kind. Fahrlässig und implizit verächtlich ignoriert die Debatte um Gender und inkludierende Sprachregelungen jenen Anteil der Gesellschaft, der sich selbst politisch zu verorten, zu artikulieren noch nicht in der Lage und daher den Zuschreibungen Dritter ausgeliefert ist, das sogenannte „Kind“.
Das Kind? Das? Woher bezieht die Mehrheitsgesellschaft volljähriger Erwachsener ihr Recht, minderjährige Wachsende so mir nichts dir nichts zu neutralisieren? Das Kind! „Ist es nicht süß?“ – „Guck mal, wie schön es spielt!“ – „Es geht uns auf die Nerven!“ – „Was hat es denn?“ Unausgesetzt verniedlicht und versächlicht, als Sache, kommt es in der Sprache daher, als Ding, also verdinglicht.
Primärer wie sekundärer Geschlechtlichkeit beraubt, lebt „es“ ohne Wahlfreiheit der Selbstbezeichnung, ohne Einspruch erheben zu können gegen die grammatische Vorgabe, die es mit Macht zum Gegenstand macht. Wie „es“ sich ohnehin nicht wehren kann gegen die Existenz unter als Fürsorge verschleierter Fremdherrschaft, in der „es“ nicht einmal seinen Aufenthaltsort selber bestimmen darf.
„Das Mädchen“ ist neutral, „der Junge“ bereits phallisch
Keine Frage, „das Kind“ konstituiert ein ununterbrochenes, alltägliches Skandalon, dem man/frau und LGBTQ-Communities keinerlei Beachtung schenken. Niemand zuckt mit der Wimper, wo auch immer die Rede ist vom Kind, ob es nun um „das Christkind“ in der Weihnachtskrippe geht oder „das Kleinkind“ in der Kinderkrippe.
Überhaupt, „Kleinkind“! Mit der zusätzlichen Stigmatisierung als „klein“, als körperlich unausgereiftes, zwergenhaftes Wesen, erreicht der Skandal seinen Gipfel. Ärger noch: Kaum dem Kleinkindstatus entwachsen, wird aus dem Kind entweder „das Mädchen“, ein erneut neutralisiertes Geschöpf, während „der Junge“ bereits phallisch und vergnügt ein Geschlecht aufweisen und sich seiner selbst vergewissernd weiterem Gedeihen entgegensehen darf. Auf diesen Umstand, immerhin, hat die kritische Linguistik aufmerksam gemacht, dabei jedoch ebenfalls „das Kind“ vernachlässigt, das „dem Mädchen“ stets vorausgeht.
Selbstkritisches Innehalten wäre am Platz
Verpönt ist inzwischen allein die früher gebräuchliche, abschätzig flapsige Redeweise, mit der eine junge Frau als „das junge Ding“ auftauchte, gewöhnlich eines, das sich amüsierte, es nicht besser wusste, sich vom Land aufgemacht hatte in die Stadt und so fort. Längst hat „das junge Ding“ ebenso ausgedient wie „das Fräulein“. „Das Kind“ aber existiert fort, grammatisch eingestuft wie „das Tier“ oder „das Mittel zum Zweck“.
Ehe nun weitere Alleen, Blumen und Frauen von den Wänden gewischt werden, wäre selbstkritisches Innehalten am Platz. Grammatische Findungskommissionen, linguistische Tagungen, Ausschüsse im Bundestag – alle sind aufgerufen, erst einmal „das Kind“ vor der Verdinglichung zu retten, um es nicht mit dem Bade auszuschütten.
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