
© Diaphanes Verlag
Samuel Hamens Roman „Wie die Fliegen“: Risse in der Wirklichkeit
Voller absurder Komik und tiefgründiger philosophischer Reflexionen: Der Debütroman des Luxemburger Schriftstellers Samuel Hamen.
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Zwanzig Tage im August in einer unbestimmten nahen Zukunft: Diese Zeitspanne hat die „Akademie“ Farr gewährt, um in einer abgelegenen Stadt einen verschwundenen Teenager zu finden. Auf den ersten Blick scheint die geschlechtlich uneindeutige Detektiv-Figur in Samuel Hamens Debütroman „Wie die Fliegen“ einem klassischen Noir-Plot zu entspringen. Sie konsumiert entschieden zu viel Pastis und Zigaretten und beginnt, während die Ermittlungen eher schleppend vorangehen, eine Affäre mit einem leicht dubiosen, ebenfalls geschlechtslosen „Du“.
Zugleich jedoch durchzieht den Text eine vage dystopische Atmosphäre. Von einem ominösen „Institut“ ist die Rede, das eine ebenso ominöse „Materie“ als Energieressource nutzt, von einem ungeklärten Tiersterben, einer Droge namens „Cheevl“ und einer angesagten Sound-Künstlerin, deren (nicht bloß metaphorisch gemeinte) Ideen von Verwandlungen, Verknüpfungen und Erweiterungen eine revolutionäre Untergrundbewegung befeuern. Und welche Macht verbirgt sich eigentlich hinter der „Akademie“?
Geschickt baut Hamen, 1988 in Luxemburg geboren, diverse aus der Fantastik geborgte Tropen in seinen Roman ein, nur um sie Stück für Stück wieder zu zerlegen. So erinnert die „Materie“ mit ihren mysteriösen Eigenschaften an den „Schimmer“ in Alex Garlands Sci-Fi-Horror-Film „Auslöschung“, oder auch an die „Zone“ in Tarkowskis Science-Fiction-Klassiker „Stalker“.
Wirklichkeit à la „Matrix“
Die merkwürdig identischen Flugbahnen der Fliegen, die konformistischen Verhaltensweisen und stereotypen Phrasen der Bewohner wiederum verstärken von Seite zu Seite das Gefühl, in einer designten Wirklichkeit à la „Die Truman Show“ oder „Matrix“ gelandet zu sein, die sich nur ab und an durch unerwartete Glitches entlarvt. Während der Fall, den die Erzählfigur lösen soll, sich mehr und mehr als bloßes Lockmittel entpuppt, beginnt ihre Realität zusehends zu bröckeln.
Der wahre Horror lauert hier allerdings nicht im Kippmoment, in dem sie die rote Pille einwirft und jäh hinter die Simulation blickt – er liegt vielmehr in der endlosen Aufsplittung der Wirklichkeit, in die Farr fällt und fällt wie in ein Kaninchenloch ohne Boden.
Sprachlich macht Hamen die wachsende Verunsicherung und Verstörung seiner Hauptfigur fühlbar, indem er von der ersten Seite an in latent bedrohliche Metaphern die Differenz zwischen Natur und Künstlichkeit kollabieren lässt: „Es klang, als wäre die Sonne ein Aggregat, das sich nicht mehr ausschalten ließ, ein in Watte gepacktes Gerät, das nicht aufhörte zu pulsieren und zu strahlen.“
Abgründige philosophische Reflexion
Die Straßen kommen Farr „so glatt und aufgewärmt, gleichzeitig so kalt und abweisend vor, als hätte man in einer der aufgegebenen Zonen ein wenig Schwärze, die zwischen den Sternen klaffte, ausgeschnitten und damit die Wege hier gepflastert“. Wenig später beginnt die Erzählfigur allerlei surreale Details zu bemerken, in denen sie bedeutsame Fährten wähnt: etwa die winzigen Zeichnungen im Innern des Istgleichzeichens eines Graffitos, die weit mehr Aufschluss über die Intentionen der Sprayer zu geben scheinen als die Parole selbst. Oder die Nase des Bürgermeisters, auf der sich dessen Gesicht en miniature wiederholt – wenngleich weitaus expressiver als sein tatsächliches.
„Wie die Fliegen“ steckt nicht nur voller absurder Komik und schräger Mise en abymes, letztendlich dient die Detektivstory vor allem als Vorwand für eine abgründige philosophische Reflektion über Realitätskonstruktion und -dekonstruktion im digitalen Zeitalter. Und diese Beobachtungen sind, bei aller Fantastik, dann doch wieder ziemlich gegenwärtig.
Ähnlich, wie die „Angststarre“, in der die Stadt gefangen scheint, erschreckend viel aussagt über unseren Umgang mit dem Gefühl, am Ende des Anthropozäns zu leben. Man kann „wütend oder zynisch, selbstsüchtig, depressiv oder spirituell oder schamanistisch“ werden, heißt es an einer Stelle. Oder man kann sich, wie Farr, auf neue Wahrnehmungsweisen und neue Gemeinschaften einlassen – auch wenn der Preis dafür die Aufgabe der eigenen Gewissheiten ist.
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