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Kultur: Sanfte Vielköpfigkeit

Ein Mann wacht auf.Der Mund steht ihm offen.

Ein Mann wacht auf.Der Mund steht ihm offen.Angetrocknete Tränen im Augenwinkel.Schlechter Geschmack im Mund.Ein ganz normaler Morgen für Monsieur Bâton.Wie jeden Morgen nimmt er sich auch heute wieder vor, sein schäbiges Zimmer in einem Pariser Vorort zu verlassen, um ein wenig Glück zu erhaschen."Wenn ich von zu Hause weggehe, rechne ich immer mit einem Ereignis, das mein Leben von Grund auf ändern wird", heißt es im Roman von Emmanuel Bove, den das Theater zum Westlichen Stadthirschen in der Übersetzung von Peter Handke für die Bühne bearbeitet hat.

Monsieur Bâton ist ein Außenseiter.Er arbeitet nicht, da er nach einer Kriegsverletzung eine Rente bezieht.Er ist so sensibel, daß er die Luft anhalten muß, wenn er seinem ungewaschenen Nachbarn auf der Treppe begegnet.Und drittens ist er schüchtern - so schüchtern, daß er sich nicht traut, die Angebetete im Gehen zu küssen, "aus Angst, ihren Mund zu verfehlen".Nein, in der Liebe hat er kein Glück.Wenn er mehr Geld hätte, würde er mit einer Dame in der Theaterloge die Blicke auf sich ziehen ...

Dieser Träumer und zugleich scharfsichtige Weltwahrnehmer, der sich allerlei Zeug in die eine Jackentasche stopft, um seine schiefe Schulter auszugleichen, wird von fünf Schauspielern dargestellt.Hildegard Schroedter, Dominik Bender, Dirk Richard Heidinger, Johannes Herrschmann und Heinrich Rolfing bringen das Kunststück fertig, trotz ihrer Vielköpfigkeit weder die Figur ins Konturenlose ausfransen zu lassen noch die Struktur der Erzählung zu zerstören.Erzählung? Ja, dieses Theater bleibt Erzählung und ist doch himmelweit von einer Erzählstunde entfernt.Der wundervolle Text wird nicht zerstückelt, er läuft vielmehr ganz sanft durch fünf Körper hindurch.Dadurch kommen die charakterlichen Widersprüche (Regie: Erick Aufderheyde) klar zur Geltung.So, wenn der schüchterne Held unschlüssig ist, wie er sich einer Frau nähern soll, und die eine Seite zögert und die andere Mut macht.So entsteht ein Geflecht aus Aktion und Kommentar, aus Wunsch und Angst und man spürt etwas von dem feinen Wahnsinn, den er in sich trägt.

Er bleibt allein.Auch die so sehr ersehnten "Freunde" nutzen ihn nur aus.Schließlich wird ihm das Zimmer gekündigt.Nicht etwa, weil er etwas getan hätte, sondern weil er nichts hat."Nicht zur Arbeit gegangen, nicht gesungen, nicht gelacht und keine Zigaretten auf die Treppe geworfen." Monsieur Bâton, hat sich durch das, was er nicht tut, verdächtig gemacht.Ein ereignisloses Leben? Ein aufregendes Leben! Und eine Inszenierung, die auf der Grenze zwischen Komik und Traurigkeit tänzelt.Nicht einen Augenblick fürchtet man, sie könnte die Balance verlieren.

Bis 3.April, jeweils Mittwoch bis Sonnabend 20 Uhr

TOM HEITHOFF

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