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Besessener Mythologe. Der Berliner Schriftsteller Michael Lentz.

© Jörg Steinmetz

„Schattenfroh“ von Michael Lentz: Taumelnde Teilchen in der Sonne

Opus magnum: Michael Lentz schreibt mit „Schattenfroh“ einen Vater-Roman als Schöpfungsgeschichte der Schrift.

Die Geschichte vom Verschwinden des Künstlers im Bild ist oft erzählt worden. Ein alter Maler, so überliefert es eine chinesische Legende, zeigte seinen Freunden sein letztes Bild. Ein Park und ein schmaler Weg waren darauf zu sehen, der Weg führte zu der kleinen Tür eines Palasts. Und bevor sich die Freunde ihm zuwenden konnten, hatte der Maler sein Bild betreten, die Tür des Palasts im Bild geöffnet und war dahinter verschwunden.

Diesen kunstvollen Grenzgang zwischen Realität, Kunst und fantastischer Imagination hat nun der Schriftsteller und Poeta doctus Michael Lentz in seinem neuen Monumentalwerk „Schattenfroh“ ins Extrem getrieben. Auch sein Protagonist, der wie einst Homers listiger Odysseus den Namen „Niemand“ trägt, geht auf den mäandrierenden Wegen des Romans in gleich zwei Bildwerke hinein und wandert darin herum.

Da ist zuerst ein Wandteppich im Büro des Vaters des Erzählers, das den mittelalterlichen Stadtplan von Lentz’ Geburtsstadt Düren zeigt, und zum anderen ein Monumentalgemälde von Werner Tübke, eine Darstellung der Schlacht von Frankenhausen, die 1525 die deutschen Bauernkriege entschied.

Ernsthafte Auseinandersetzung mit den Urtexten des Christentums

Bevor der Erzähler des „Requiems“ zu seinen Expeditionen in die Bilder ansetzt, haben wir schon eine Menge wundersamer Metamorphosen des Erzählgeschehens hinter uns. Bereits auf den ersten Seiten wird deutlich, dass der abrupte Gestaltwechsel der Figuren Programm ist. Gleich zu Beginn tritt ein Icherzähler auf, der „im Kopf nach Wörtern sucht“, ohne über die traditionellen Möglichkeiten der Artikulation zu verfügen. Er sitzt mit Gesichtsmaske und einer Art Brille in einer dunklen Zelle, wartet auf sein Verhör und agiert wie ein Aufzeichnungsmedium, das die Anweisungen und Wünsche der ihn umgebenden Bezugsfiguren protokolliert.

Der unsichtbare und gleichwohl allmächtige Einflüsterer des Erzählers ist nun der im Titel annoncierte „Schattenfroh“, der, wie es auf den ersten Seiten heißt, „große andere, der stets seine Gestalt wechselt“. Der ominöse „Schattenfroh“ firmiert einmal als Luzifer, als gefallener Engel der Bibel, dann wieder als Vater des Erzählers, dann wieder bleibt er als anonymer Influencer im Hintergrund. Das ist die quasitheologische Versuchsanordnung für diesen Roman: die schwierige Trinität zwischen dem Icherzähler Niemand, seinem allmächtigen Vater und dem beständig ins Menschenschicksal eingreifenden Teufel.

Gleich auf den ersten Seiten signalisiert Lentz, dass es ihm sehr ernst ist mit der Auseinandersetzung mit den Urtexten des Christentums und der Offenbarung des Johannes-Evangeliums: „Am Anfang war das Wort.“ Sein ungreifbarer Held Schattenfroh streut immer wieder biblische Zeichen und Codes in den Romantext, so etwa die Zahl 666, die in der Offenbarung des Johannes als Zeichen des „Anti-Christen“ firmiert. Später wird in unterschiedlichsten Kontexten das Martyrium der Kreuzigung Jesu erzählt, als Inbild der Bestialitäten der Bauernkriege und des Dreißigjährigen Krieges. Die Kreuzigungsszene fungiert in „Schattenfroh“ zudem als dunkler Refrain der Romanhandlung, ist strukturbildend für zahlreiche Passagen des Textes.

Nicht nur Roman, sondern auch Sprachtheorie und Religionsphilosophie

Was Lentz mit „Schattenfroh“ auf 1008 Seiten vorlegt, ist sicher das bislang sperrigste, eigensinnigste und enigmatischste Romanwerk des 21. Jahrhunderts. Dass man dieses außerordentliche Buch nicht selbstverständlich für den Deutschen Buchpreis nominiert hat, ist ein klares Signal, dass radikale Erzählwerke im wohltemperierten Literaturbetrieb unserer Tage keine Chance haben. „Schattenfroh“ knüpft an Lentz’ preisgekrönte Erzählung „Muttersterben“ aus dem Jahr 2001 an, geht aber weit über eine autobiografische Suchbewegung hinaus.

„Schattenfroh“ ist nicht nur ein Roman, es ist zugleich strenge Sprachtheorie, Religionsphilosophie, Mythologie und ästhetische Liturgie – ein Sprachspiel der virtuosen Art, das konventionelle Handlungslogik lässig beiseiteschiebt, um unter Rückgriff auf mittelalterliche Rhetorik und französische Philosophie die „Bewegung der Schrift“ zu erkunden. Die 1008 Seiten des Romans sind als ein einziger Textblock angelegt, unterbrochen nur durch ikonische Elemente und hieroglyphische Zeichen.

Ein faszinierendes Buch, aber auch eine Zumutung

Zu den Leitbildern von Lentz gehören dabei Religionsphilosophen wie Edmond Jabès und Emmanuel Levinas, wie sie umkreist er in mitunter ausufernden Satzperioden die Materialität von Buchstaben und Schrift und ihr Verhältnis zur „Bewegung des Todes“. Bei Freunden einer süffigen, leicht lesbaren und realistisch erzählten Literatur werden solche Abschweifungen auf wenig Begeisterung stoßen: „Das Buch Schattenfroh“, so hebt eine dieser Reflexionen an, „ist ein liber ruinarum. Es ruiniert meine Erinnerungen, indem es sie stilllegt, um sie zu sezieren. Ich lebte gut mit ihnen, solange sie im Fluss waren, harmlose Teilchen, die zwar das Wasser trübten, es aber nicht ungenießbar machten. Glitzerten die taumelnden Teilchen in der Sonne, schienen durch sie ganze Geschichten auf, in denen ich mich verzückt verlor; auf den Boden gesunken, verklumpten sie sich manchmal, bis ein unmerklicher Strom sie erneut fortnahm und in der Drift verschwinden ließ, die unmerklich für den Einzelnen auch die Sprache mitnimmt in eine andere Lautung, sodass manche sagen, eine neue Sprache sei entstanden.“

Nicht alle Leser werden Lentz durch seine ausgedehnten Sprachreflexionen folgen wollen. „Schattenfroh“ ist ein faszinierendes Buch, aber es ist auch eine Zumutung, es quält durch Hypergenauigkeit, durch Repetition und Variation, hebt das lineare Erzählen auf, verwischt stattdessen ständig die Zeitebenen und konfrontiert uns mit anagrammatischen Metamorphosen der Romanfiguren. „Schrift ist kein Geschenk“, so hat es Lentz bereits vor einigen Jahren in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen gesagt, „sie ist als Wollust getarnte Pein.“

Schonungslos genaue Abrechnung mit dem Vater

„Schattenfroh“ erzählt auch von den innersten Nervenbahnen des Schmerzes, in den aufwühlenden Passagen über die Grausamkeiten der Bauernkriege und die hasserfüllten Kämpfe der Reformatoren Martin Luther und Thomas Müntzer gegeneinander. So kann man Lentz’ „Requiem“ über weite Strecken auch als Ästhetik des Schreckens lesen, die von lutheranischem Eifer und Müntzer’scher Revolte handelt, von Gottesbeschwörung und Gottesvergiftung.

Ein Zentrum des Romans ist das autobiografische Suchbild über den eigenen Vater, eine schonungslos genaue Abrechnung mit einem gewalttätigen Mann, der den Sohn auf Distanz hält und sich als Chef einer labyrinthisch gegliederten Bürowelt im Ordnungswahn verliert. In diesen verstörend erzählten Beschreibungen einer Kindheit und Jugend liegt das epische Kraftzentrum des Buches.

Im ersten Teil des Romans gewinnt die Darstellung väterlicher Despotie an Intensität, wenn Lentz sein episches Alter Ego durch die Flure des väterlichen „Tempels der Verwaltungsbürokratie“ irren lässt (im wirklichen Leben war Lentz’ Vater Oberstadtdirektor von Düren), eine Form des Erzählens, die erkennbar an Kafka geschult ist. Später widmet Lentz dem langen Siechtum des moribunden Vaters ergreifende Passagen: Der Vater-Roman wird zum „stillen Requiem“. Die Rückeroberung der Kindheit führt aber nicht nur über die Topografierung Dürens und seines monströsen Verwaltungsgebäudes, sondern auch der Eifel, die Lentz einst auf langen Wanderungen mit seinem Vater durchquerte.

Alles befasst die Kunst und Wissenschaft

In Sachen Ordnungsbesessenheit und Präzisionseifer ist der Sohn und Erzähler dem Vater durchaus ebenbürtig. Bei der fantastischen Erkundung seiner Heimatstadt Düren lässt Lentz seinen Erzähler ein noch nie erprobtes Ritual des Totengedenkens vollbringen. Als einzigartiges Exerzitium des Eingedenkens notiert er in Handschrift die Namen aller 3100 Toten, die der Luftangriff auf Düren am 16. November 1944 gefordert hat. Ein Schriftexerzitium, das im Roman über 60 Seiten einnimmt. Am Ende kehrt der Roman zur Eingangsszene zurück, zum stummen Ich in der Verhörzelle und zu Schattenfroh, der sich in seine Buchstaben und Elementarteilchen auflöst.

An eher versteckter Stelle hat Michael Lentz auf die Fragmente des Romantikers Novalis verwiesen, wo der „Letternaugur“ beschrieben wird: „Der Philologe = Wahrsager aus Chiffren = Letternaugur. Ein Ergänzer … (Weg vom Einzelnen aufs Ganze … Alles befasst die Kunst und Wissenschaft; von einem aufs andere und so von einem auf alles zu gelangen, rhapsodisch und systematisch zu gelangen; die günstige Weisekunst, die Divinationskunst.)“ Das darf man auch als Grundsatzerklärung des Autors lesen. Michael Lentz ist der sprachbesessene Letternaugur der Gegenwart.

Michael Lentz: Schattenfroh. Ein Requiem. S. Fischer Verlag. Frankfurt a. M. 2018. 1008 Seiten, 36 €.

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