zum Hauptinhalt

Kultur: Schwächezustände eines Genies

Kritik an Mozart schadet nichts. Auch nicht 2006. Eine freundliche Schmährede / Von Eckhard Henscheid

Beispielsweise Kritik an Richard Wagner war schon immer erlaubt. Ähnlich liegen die Verhältnisse bei Richard Strauss, Pfitzner, Mahler, Bruckner, sogar Beethoven. Von Kritik verschont wird außer Bach – so gut wie exklusiv – Wolfgang Amadeus Mozart. Dabei ist es immerhin der Mozartforscher A. Hyatt King, der ein wesentliches Moment für fruchtbares Weiterleben vermisst: „Kritik an Mozart und seinem Werk“ – Kritik im Sinn von Unterscheidung. Stattdessen beinahe ausschließlich Elogen und Etüden. Höchstens enttäuscht Mozart mal die Geigerin Julia Fischer, der vor allem die Geigensonaten eher „langweilig“ vorkommen.

Der Titel „Genie“ dürfte dem Komponisten mindestens doppelt so oft wie jedem vergleichbaren Künstler umgehängt worden sein. Selbst Wolfgang Hildesheimer bleibt beim Alten: „Eine Jahrtausendfigur“. Denn: „An ihm, Mozart, ist alles wesentlich.“ Wohlgemerkt: alles. Und wesentlich meint wohl vulgo: wertvoll. Das allzu affirmationseinladende, letztlich konventionelle Moment – beides hat schon Adorno apostrophiert. Eine kritische, unbeschwerte Einlassung wäre „die schwierigste und dringlichste“. Auch das blieb leider mehr Stichwort als ausgeführt.

Die Lage war nicht immer so einseitig. Wilhelm von Kügelgen notierte 1870: „Schrecklich so bloß in Musik zu sein wie ein Leierkasten. Mir scheint doch ein solcher einseitiger Riese viel kleiner zu sein als jeder sonst ganz gewöhnliche gebildete Mensch“ - und natürlich ließe sich dies auch auf die Musik übertragen: weniger Kapellmeister-, nein, irgendwo schon auch Leierkastenmusik. Gewiss, es betrifft eine solche Fundamentalkritik die älteren der Komponisten insgesamt, dies wie maschinell vor sich hin Werkelnde, wie vom Leben schon Abgezogene. Bei Mozart aber stellt sich der Eindruck schon beim Blick aufs 1000-seitige Köchelverzeichnis ein. Das Leierkastenmäßige, genauer Automatische oder Automatenähnliche, sich selbst ewig Produzierende und Reproduzierende zumindest: Beides wäre ein Ansatz sinnvoller Kritik als einer unterscheidenden Liebe.

„Mozart lieferte die Gefühle, die das Herz nicht mehr selber fabrizierte“ – so sieht es der Schriftsteller Albert Cohen. Wie man in der Germanistik von goethenahen und goethefernen Zeiten redete: So könnte man jetzt, nach dem ersten Schwall einer mozartaffinen Nachkriegskultur, eine mehr mozartkritische oder immerhin -kühlere Phase erwarten. Wie denn Mozart ja auch vielleicht selber ein Mann der Kälte war: „Wenn die Leute in mein Herz sehen könnten, so müsste ich mich fast schämen – es ist alles kalt für mich – eiskalt“, schreibt er 1790. Nur sehr selten aber wurde nachgefragt, etwa dahin, ob Mozarts Musik nicht stark ins Kalte, nämlich ostentativ Gassenhauerische drifte. Stattdessen wurde unverdrossen der Mythos von Wärme und Lieblichkeit weitergesponnen oder eben der Gemeinplatz von der Mozart’schen Wehmut als einem „Lächeln unter Tränen“.

Lichtenbergs Wort über Klopstock, erhabener habe noch nie ein Geist stillgestanden, lässt sich auch über Mozart sagen. Wir brauchen dabei keineswegs zu den früheren KV-Nummern zurückzugehen, auch nicht einmal auf die Gebrauchsmusik. Dass Mozart auskömmlich überleben wollte, lässt sich ihm nicht zum Vorwurf machen. Aber das Schematische zeigt sich auch da, wo man ihm immerzu zarteste, lichtvollste, geniale Eingebungen zuvermuten möchte. Vielen auch der höchstästimierten Sinfonie- und Quartettstücke eignet zumindest im Gerüst etwas Stures, geradezu Einfallsarmes, abermals Kaltes, so eben mal Heruntergedudeltes.

„War denn Mozart populär?“, fragte Goethe. Mit seinem Besten offenbar nicht. Und umgekehrt ist durchaus die Frage erlaubt, warum Mozart nicht ständig auf diesem obersten Niveau laborierte. Seine Musik „reue“ ihn, bekannte er einmal. War er ein Gefangener in seinen eigenen formalen Gehäusen? Oder tötete ihn quasi die Plattheit der Rezeption? So wie ihn posthum nun die Rhetorik der Schwärmerei und Mystifikation zum zweiten Mal abzutöten trachtet.

Schon aus Fairnessgründen wollen wir die Mäkelei an Mozart nicht an seinen minderen Leistungen hochziehen. Auch die Gebrauchsmusik kann kaum Maßstab sein, nein, Gerechtigkeit und Ehrgeiz gebieten es, sich hier am Besten zu versuchen, zum Beispiel an den drei großen italienischen Opern – und hier geraten wir sofort in Verlegenheit. Denn von den heute meist gestrichenen Pflichtschuldigkeitsnummern für die Nebenrollen abgesehen, hat es hier beinahe keinerlei Schwächen und Fehler. Im „Don Giovanni“ sind die elaboriertesten Nummern auch die wohl unbekanntesten. Etwa das Balkon-Terzett aus dem zweiten Akt und das ähnlich ironisch facettierte und geschmeidig durchorganisierte Quartett aus dem ersten Akt. Mit Schwachem fündiger wird man in der „Zauberflöte“. „In diesen heiligen Hallen“ darf man sehr wohl als übellaunig herunterkomponiert empfinden. Und auch sonst sind die unbekannteren Nummern die kunstvolleren: Die Gesänge der Drei Damen sind durchaus zu präferieren den herzlichen Liedern und Duetten des Typs „Bei Männern, welche Liebe fühlen“, Volksliedern wie aus zweiter Hand.

Was man Franz Lehár und Puccini unentwegt ankreidet, sich allzu versiert der allzu locker sitzenden und zu öffnenden Tränendrüsen eines zeitlos dümmlichen Publikums zu bedienen, das hat man Mozart durchgehen lassen. Als das viel bequakelte Vermögen, unter Tränen zu lächeln. Dauerinspiriert war der Erwachsene keineswegs. Sondern gar nicht zu selten matt und müde. Dann freilich wieder hochkonzentriert und hart arbeitend. Die allzeit geniale „Jahrtausendfigur“ dürfte die Kunstwahrheit eher vernebeln. Immerhin kann man es auch so lesen, dass gilt, was über Papageno gesagt wird: „Der Arme kann von Strafe sagen, denn seine Sprache ist dahin.“ Auch wenn Benedikt XVI. uns nun mitteilt: „Mozart ist schön, wie die Schöpfung schön ist.“ Womit Mozart, Theologie und gottseliger Nonsens endlich mal zur Deckung kommen.

Interessanter wären vergleichsweise platte Überlegungen der Art, ob es gut war, dass ein 13-jähriger Lausbub eine Messe schreibt eines Niveaus, das von dem des Requiem nur bei genauerem Hinhören zu unterscheiden ist. War Mozart zu wenig Kind, zu viel Musikautomat? Wobei man Cohens Worte, Mozart habe die Gefühle geliefert, die das Herz nicht mehr fabrizierte, vom Phylogenetischen ins Ontogenetische verlängern darf: Gefühle, die das Herz noch nicht hatte, der Kopf und die Feder aber bereits produzierten. Was den Blick einnal mehr auf den Vater richtet.

2006 wäre die Zeit, zum Wortkünstler Mozart auf Distanz zu gehen. Es muss ja nicht wieder das Schweigen des Mantels über die Freude am Fäkalisieren – aber allzu viel Preis des Schweinigels scheint mir ebenso wenig angezeigt wie die Sehnsucht, aus Mozart einen Revoluzzer zu machen. Nein, genuin war Mozart mindestens genauso sehr ein Konservativer. Kritik fast jeder Art schadete mitnichten, am wenigsten dem Genie selber.

Die Leute aber – wollen einen Narren gefressen haben. Sie wollen, wenn sie nicht gerade mit Gott und der Welt verkracht sind, um jeden Preis lieben – oder zumindest jubeln. Warum das so ist, ob es sich da um einen Evolutionsplan, eine weltgeistliche Strategie oder einen evolutionären Defekt handelt, um Stellvertreter-Projektionen pro domo, um eine Affirmationsschaukelwaage zwischen linker und rechter Hemisphäre oder was Nächtliches auch immer – im Fall der Kunst, im Fall Mozarts speziell, führt der Jubel nicht immer weiter.

Der Autor, Jahrgang 1941, lebt als Schriftsteller in Frankfurt a.M. und Amberg.

-

Zur Startseite