
© dpa/Arno Burgi
Sehen ist Hören ist Verstehen: Ursula Krechel erhält den Büchner-Preis
Verheerungen der Geschichte, Verhärtungen der Gegenwart: Die Wahlberlinerin Ursula Krechel erhält für ihr vielgestaltiges Werk Deutschlands angesehenste Literaturauszeichnung
Stand:
Im großen Bestiarium der Schriftsteller firmiert sie als Nachteule. Das klingt nicht nur sympathischer als Arbeitsbiene („schon die Metapher schief / und erst der gestreifte Leib“), es trifft auch das Immobile, Vereinzelte, gar nicht auf fröhliche Schwarmintelligenz ausgerichtete Dasein im Schutz der Dunkelheit besser.
Arbeitsbericht einer „Nachteule“
„Ausgesessen“, heißt es in Ursula Krechels Gedicht „Aus dem Arbeitsbericht einer Nachteule“: „Zuerst den Kopf, dann Lunge, Leber, Herz / aufgefressen, was übrig bleibt, mit scharfen Krallen / zusammengedrückt zu einem festen Nahrungsball / Schlingen und Gelingen, den Rest herausgewürgt / Gewölle nennt das der Mensch, ich nenn’s einen / Arbeitsvorgang unter anderen: Präzisionsauswertung.“
Das Animalische, und deshalb ist dies ein so wunderbares Selbstporträt, findet seine Grenzen indes in einer Rationalität, die sich im ganz und gar nicht Unwillkürlichen zu ergreifen sucht. „Meine Kritiker sind Schlafmützen“, behauptet diese angriffslustige Eule, die sich „homophon heiser geschrien“ hat, „um Neider und Konkurrenten auszustechen“. Und um sich gleich noch verstandeslastiger zu inszenieren, stellt sie fest: „blitzblank ist der Serotoninspiegel geputzt / das Hirn überwiegt an Masse das Rückenmark“.
Krönung der Karriere
Tatsächlich hat sich die am 4. Dezember 1947 in Trier geborene Wahlberlinerin Ursula Krechel in den vergangenen 50 Jahren mit Ehrgeiz, Fleiß, Ausdauer und höchster Disziplin in sämtliche Gattungen der deutschsprachigen Literatur hineingeschrieben. Nach dem Studium der Germanistik, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte führte sie ihr Weg zunächst als Dramaturgin an die Städtischen Bühnen Dortmund, bevor aus ihrem ersten Gedichtband „Nach Mainz“ (1973), auch eine Hommage an die krebskranke Mutter, ein umfangreiches Werk wuchs, in dem Romane bald mehr Platz beanspruchten.
In diesem Jahr wird ihr nun die angesehenste literarische Auszeichnung im deutschsprachigen Raum verliehen, der von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vergebene und mit 50.000 Euro dotierte Georg-Büchner-Preis. Er krönt eine Karriere, auf deren Weg der Joseph-Breitbach-Preis 2009 und der Deutsche Buchpreis 2012 für den Roman „Landgericht“ lagen.
In ihren Gedichten, Theaterstücken, Hörspielen, Romanen und Essays, so die Akademie, setze Krechel „den Verheerungen der deutschen Geschichte und Verhärtungen der Gegenwart die Kraft ihrer Literatur entgegen“. Sie würdigt das „Thema der Selbstbehauptung, Wiederentdeckung und Fortentwicklung weiblicher Autorschaft“, der sich als roter Faden durch ihr Schaffen ziehe.
Erfahrungen der Fremdheit
Sie attestiert ihr „Innenansichten der Klassenverhältnisse“ und hebt insbesondere die Romantrilogie „Shanghai fern von wo“ (2008), „Landgericht“ (2012) und „Geisterbahn“ (2018) hervor, „eine große Erzählung der Vertreibung und Verfolgung von Juden und Sinti und der Rückkehr in ein Deutschland, in dem das Exil in die Erfahrungen von Fremdheit und Nicht-Zugehörigkeit mündet.“
Das Thema prägt auch ihren jüngsten Essayband „Vom Herzasthma des Exils“, der eine Wendung des während der Nazijahre in die USA emigrierten Thomas Mann übernimmt. Zeitlich aber greift er tief ins 19. Jahrhundert aus, um von dort einen Bogen zu den globalen Fluchtbewegungen der Gegenwart zu schlagen.
Die Makroperspektive erlaubt ihr unmissverständliche Urteile über „Remigration als ethnische Säuberung“ und „Remigration als Deportation“: „Wer heute von Remigration schwafelt, zieht das Ansehen dieser Menschen, ihre Verluste, ihre Konflikte in den Dreck, will Menschen, die heute in unserem Land leben, den Boden unter den Füßen wegziehen, den Boden, auf dem sie sich eine Existenz aufgebaut haben.“
Wer heute von Remigration schwafelt, zieht das Ansehen dieser Menschen, ihre Verluste, ihre Konflikte in den Dreck, will Menschen, die heute in unserem Land leben, den Boden unter den Füßen wegziehen, den Boden, auf dem sie sich eine Existenz aufgebaut haben.
Ursula Krechel, Büchner-Preisträgerin 2025
Zur historisch informierten Haltung kommt bei ihr ein ebenso leidenschaftlicher Sinn für das, was man als Autonomie der Kunst bezeichnet. Er steht bei ihr keineswegs im Gegensatz zum Engagement. Ohne sich in eine kritische Bürgerin und eine Sprachartistin aufzuspalten, vermittelt sie im Werk zwischen beiden Seiten. Ursula Krechel weiß: Jedes Stück Wirklichkeit ist auch ein Stück sprachlicher Wirklichkeit.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.
Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.
Damit stellt sie sich ausdrücklich in die Tradition der literarischen Moderne. Schreiben und Denken ist eine Reise in den „Canyon des Denkens, der sich auftut / nie mehr schließt“. Das Unbewusste lauert immer schon in der Schlucht nebenan, und es tritt durch die Artikulationslücken einer Sprache, die das zu Benennende nie vollständig erfasst. Vor allem in den Gedichten, die ganz im Gegensatz zur nüchternen Prosa rabulistische Purzelbäume schlagen, folgt sie dem ewigen „Abhang des Bewusstseins“.
Selbstreflexive Momente ihres Schreibens
Hinter jedem Laut wartet schon seine gedankliche Verschiebung: von Hertz zu Herz, vom Geröteten zum Gerösteten zum Tröstenswerten. Und jeder auf Kommunikation angelegte Satz zwingt seinen Sprecher auf regelhaft vorgefertigte Bahnen. „Wann haben wir zuletzt ein Gespräch über Syntax geführt / wie über Bäume oder ein bedrohtes Naturschutzgebiet“, heißt es in dem Gedicht „Noch Fragen?“ aus dem Band „Beileibe und Zumute“. „Die zärtlichen Gelenke der Sprache; Konjunktionen / ach, sie knacken, sind klüger als wir denken.“ Dieses selbstreflexive Moment ihres Schreibens trägt, etwas weniger offensichtlich, auch die erzählende Prosa.
Formal so offen wie konstruktiv verfährt etwa Krechels jüngster Roman „Sehr geehrte Frau Ministerin“, wenn er weibliche Gewalterfahrungen und Mutter-Sohn-Konflikte in Motiven der griechischen Antike mit der Gegenwart überblendet. Im Wechsel von erster und dritter Person entwirft er ein kulturgeschichtliches Panorama mit den Zügen eines Politthrillers.
Über den unverwechselbaren Rang dieser Schriftstellerin, die sich in ihrem Porträt als Nachteule das Motto „Sehen ist Hören ist Verstehen wie Nahrungsaufnahme“ gegeben hat, herrscht seit Langem Einigkeit. Von daher hat die Akademie der Künste nicht lange gezögert, ihren Vorlass zu übernehmen. Das im vergangenen November eröffnete Ursula-Krechel-Archiv umfasst Manuskripte in allen Stufen von der Notiz bis zur Korrekturfahne, dazu Funkarbeiten und Materialsammlungen zu Stoffen und Lesereisen.
Am wertvollsten dürfte die reiche Korrespondenz sein, die sie mit Autorinnen und Autoren wie Jürgen Becker, Nicolas Born, Barbara Frischmuth, Wilhelm Genazino, Georges-Arthur Goldschmidt, Ludwig Harig, Barbara Honigmann, Sarah Kirsch, Uwe Kolbe, Brigitte Kronauer, Friederike Mayröcker, Herta Müller, Helga M. Novak, Peter Rühmkorf, Urs Widmer oder Christa Wolf geführt hat. Die Liste ist um einiges länger. Mit den Gratulanten zum diesjährigen Büchner-Preis dürfte sie weiter wachsen.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: