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Blitz und Donner. Oda Thormeyer als Meine Mutter, Bibiana Beglau (rechts) als deren Schwester Ursula. Foto: Kerstin Joensson/dapd

© dapd

Salzburger Festspiele: Seine Toten leben länger

Peter Handke ruft in „Immer noch Sturm“ Sloweniens dramatische Vergangenheit wach. Bei den Salzburger Festspielen inszeniert Dimiter Gotscheff den Text.

Die Salzburger Festspiele nennen es ein „Traumspiel“. Doch Peter Handkes dramatisches Epos „Immer noch Sturm“ geht weiter. Auf einer Bühne erscheint ein Mann unbestimmten Alters, und das Theater ist zugleich sein eigener Kopf und die Szene sein Gedächtnis. Der Mann ruft hier seine Vorfahren auf, die Mutter, die Großeltern, drei Onkel, eine Tante, die eigene Familie, auch die heimisch unheimliche „Sippe“ genannt. Einbildung und Realität, familiäre Geschichte und politische Historie beginnen sich schnell zu verweben, zu verknoten, sie verbrüdern, verschwistern, verschlingen einander.

Die Welt als Wille, Wunsch und Vorstellung. Als Verwünschung auch, denn die Geschichte, die der Mann erzählt, ist die eines Anflugs von Glück und des folgenden Verlusts von Heimat, Sprache, Eigenart. Nur die Erinnerung holt die Verlorenen zurück. Unzählige Stücke haben vom Weltkrieg, von der Diktatur, der Shoah, von Hitler, Stalin, Tod und Teufel fabuliert, das Menschenmögliche kolportiert oder dokumentiert. Brecht, Borchert, Zuckmayer, Kipphardt, Müller, Walser, Weiss, Tabori. Das alles ist Theatergeschichte. „Immer noch Sturm“ richtet den Blick indes auf einen blinden Fleck. Einen Fleck mitten in Europa.

Es geht um Südkärnten, um die slowenische Minderheit dort, zu der Peter Handkes Mutter mit ihrer Familie gehörte. An diese Wurzelspuren hatte Handke schon früher erinnert oder sie mal untergründig, mal luftig weiterwachsen lassen: in den Erzählungen „Wunschloses Unglück“, „Die Wiederholung“ oder im „Jahr in der Niemandsbucht“, in Reden und Interviews, in Stücken wie „Über die Dörfer“ oder der „Fahrt im Einbaum“. Aber noch nie so eindrücklich ausschließlich wie in diesem Kopf-Theater der österreichisch-deutschen, der slowenisch-austriakisch-jugoslawischen Zeitgeschichte. Der Kopf trägt, so in Anführungszeichen geschrieben, den Namen „Ich“. Die Hauptfigur ist Handkes Alter Ego. Das alte Ego auch. Doch ein Stück weit wie neu empfunden.

Die Zeit von 1936 bis in die Mitte der fünfziger Jahre wird hier wachgerufen, vom Vorkrieg bis zur österreichischen Unabhängigkeit 1955 mit ihren Folgen. Das ist der historische Spielraum, der zugleich Handkes persönlichen Echoraum eröffnet. In ihm vollzieht sich das Gedanken- und Gedenkspiel als große Trauerarbeit: weit über das Schicksal der eigenen Slowenensippe hinaus. Handkes Mutter hat den 1942 in Unterkärnten geborenen Sohn Peter in einer verfemten Liebe zu einem deutschen Soldaten gezeugt. Auch die drei Onkel kämpften als Reichsdeutsche in der Wehrmacht und fielen an Hitlers Fronten. Der Krieg allerdings bedeutete für die Handwerker- und Bauernjungen der slowenischen Minderheit zunächst auch: die Eroberung ferner Länder, die Befreiung aus der eigenen Enge.

Doch war das ein Auf- und Ausbruch mit gespaltenem Bewusstsein, weil die Deutschen und die Deutschösterreicher seit dem „Anschluss“ 1938 ans Großdeutsche Reich die slowenische Minderheit verfolgten. Manche gingen darum zu den Partisanen und ersehnten eine Vereinigung mit den Slowenen jenseits des Karawanken-Gebirges. Nach 1945 aber wurden die Überlebenden der größten Widerstandsgruppe gegen das NS-Reich auf österreichischem Boden zu einer aufs neue missachteten, totgeschwiegenen Volksgruppe.

Das historische Unrecht und die Widersprüche in der eigenen Familiengeschichte erzeugen der Gewitterwind des Handke-Textes. „Immer noch Sturm“, die Titelzeile brüllt, blafft, bläkt der „Ich“-Darsteller Jens Harzer gegen Ende der Salzburger Uraufführung über die schwarze, schon wieder leere Riesenbühne in der Spielhalle auf der Pernerinsel inmitten der Salzach. Keine Windstille, diese meine eure Geschichte ist noch nicht vorbei! Zugleich wirkt es als verzweifelter Weckruf. Denn das Premierenpublikum schien von Handkes Wucht und Weh (und galligem Witz auch) nach fast fünf Stunden schier erschlagen. Um danach, als der Autor von Regisseur Dimiter Gotscheff aus der Kulisse in das gefeierte Ensemble geholt wurde, doch in schrilles Entzücken zu geraten.

Dabei muss man erst einmal durchatmen. Denn der lange Abend ist auch eine Reise an die Grenzen des Theaters. Handkes Text, als Buch bei Suhrkamp erschienen, ist kein Stück mit Szenenanweisungen und gegeneinander abgesetzten Charakteren. Sondern eine durchgeschriebene Erzählung. Ein Sprech-Stück fast ohne Handlung. „Ich“ fungiert als Spielmeister und Herbeibeschwörer der Mutter-Sippe, deren Angehörige wie in einem modernen Antikendrama Selbstbeschreiber, Miterzähler und Kommentator in einem sind.

Dimiter Gotscheff aber hat in dieser Koproduktion mit dem Hamburger Thalia Theater Handkes Textfläche nicht postdramatisch aufgemotzt. Es gibt keine Karawanken-Videos, keine historischen Illustrationen, nicht Hitler, Tito oder Haider. Nur Handkes O-Texttöne und zwei Musiker (Sandy Lopicic, Matthias Loibner), die mit Akkordeon, Drehleier und Schlagzeug eine Mischung aus Balkan-Pop und Liedgut von Zarah Leander bis zu den Beatles zitieren.

Die Hauptlast trägt Jens Harzer. Erst schleppt er sich aus der Tiefe des dunklen Raums in schwarzem Pulli und schwarzer Schlakshose an einem Gehstock auf die leere Szene, nimmt auf einem Hocker Platz und redet, obwohl ganz Zeitgenosse, wie von fern her. „Eine Heide, eine Steppe, eine Heidesteppe, oder wo.“ Schon mit den ersten Worten ist die Anspielung an Shakespeares „Lear“ benannt, „Still storm“, immer noch Sturm, das Motto des königlichen Wahnsinns auf der Heide einst. Zugleich ist dies Handke- Land: „oder wo“. Man ist auf dem Kärntner Jaunfeld, auf der Saualpe. Doch Handke und die Seinen brechen in ihren Reden das archaisch Bäurische immer mal wieder auf, beispielsweise mit Einsprengseln angelsächsischer Popkultur, mit den Namen britischer Fußballclubs.

Oft wird die Sprache, in der ja hier alles allein geschieht, zum schönen Spiel und Selbstreflex, etwa in der Abwehr der „Deitschen“ mit ihren Befehlstönen, ihrer „Luftzerhackersprache“, der „Eintongabelstimme“ oder des fälschlich einschmeichelnden „Kreidefresswolfsäuselns“. Es gibt Verwünschungssuaden, die an Thomas Bernhard erinnern – und Handke bedenkt auch sich selbst mit Sarkasmus. Erzählt er statt von Geschichten vom Geschichtlichem, dann nennt er es jenen „Klartext“, den man bei ihm, dem angeblich Undeutlichen, sonst gern vermisse (eine Sottise angesichts seiner eigenen Jugoslawien-Traktate). Handke wehrt sich zudem, das unselige Schicksal seiner Slowenen eine „Tragödie“zu nennen. Die träfe doch eher zu für antike Griechen oder die Indianer...

Dimiter Gotscheff, der sich mit seinem bulgarisch-teutonischen Humor an Aischylos, Büchner und Heiner Müller reich geschult hat – Gottscheff hat in Salzburg viel gewagt. Er beatmet den mitunter sperrigen Text allein durch die chorische und individuelle Präsenz seiner frontal aufgereihten, mal vor- und zurücktretenden, mal ein wenig singenden und swingenden, aber vor allem doch nichts als redenden, ruhenden und wieder redenden Spieler. Über der weiten nackten Szene lässt die Bühnenbildnerin Katrin Brack dazu stundenlang grüne, gelbe Papierblütenblätter regnen. Mehr nicht. Doch allmählich werden aus den Erinnerungsschatten des nachgeborenen „Ichs“ geisterhaft lebendige Menschen.

Oda Thormeyer in einem rosa Tütü, halb Ballkleid, halb Brautrock, spielt so wunderbar strahlend, altmädchenhaft den Umriss mit Namen „Meine Mutter“ (so Handke alias „Ich“). Als sie von ihrem namenlos abwesenden, tatsächlich nur schattenhaftem deutschen Soldatenlover schwanger ist, legt „Ich“ alias Jens Harzer ihr die Hand auf Busen und Bauch, und allein aus dieser Gebärde, in der Handkes Stellvertreter seiner Mutter vor der eigenen Geburt begegnet, wird eine große, zärtlich kuriose Liebeszene.

Sie sind alle eindrücklich. Hans Löw etwa als Mutterbruder Valentin ein witziger, wehmütiger Gigolo. Matthias Leija, der Großvater, wird als Kauernder in Embryohaltung wieder zum Kind vor seiner Frau (Gabriela Maria Schneide), als die eigenen Kinder im Krieg sterben. Tilo Werner, der kahl, scharf, sanftwütig aussieht wie Ben Kingsley, ist Handkes hier auch dubioser Lieblingsonkel Gregor. Am tollsten aber Bibiana Beglau als außenseiterische Tante Ursula: storr, rau und doch als Partisanin, am Ende von den eigenen Leuten (und Gregor) verraten, zu Tode gefoltert, die widersprüchlich humanste.

Erst zum Schluss hin, in der fünften Stunde, löst sich die Spannung, da droht die sichtlich nicht ganz fertig gewordene Inszenierung stillzustehen. Jens Harzer, nun schon heiser und monoton, irrt im Kreis über die leere Szene, hat ungewohnt Textprobleme. Offenbar wurden die letzten 30 Seiten „Immer noch Sturm“ wie fliegende Blätter von Gotscheff gerafft, gemischt, umgestellt, mit einer Friedenstaube als leicht kitschigem Schluss-Symbol. Doch dieses Epos stört den falschen Frieden. Österreichs slowenische Minderheit hat gelitten, viele (viele Frauen) wurden massakriert oder auf Himmlers Befehl in die KZ deportiert, Volksgerichtshofpräsident Roland Freisler kam mit seinen NS-Blutrichtern 1943 eigens von Berlin nach Klagenfurt. Und Kärntens früherer Landeshauptmann Jörg Haider hat die Toten und Überlebenden noch Jahrzehnte später geschmäht. Dagegen hat Peter Handke jetzt seine Dichtung und Wahrheit gesetzt.

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