
© Mark Vessey/Kampa Verlag
„Hin und zurück“ von Tessa Hadley: So zärtlich ist der Tag
Tessa Hadley erzählt in ihrem Roman „Hin und zurück“ von einer zerrütteten britischen Familienidylle und der Flüchtigkeit der Gegenwart.
Stand:
Theoretisch ist das Leben ewige Gegenwart. Ständig ist jetzt, und kein Mensch kann es ändern. Dabei ist man oft noch gar nicht fertig mit dem gestrigen, schon wieder abgelösten Jetzt, seufzt verpassten Chancen nach, sinnt Ideen hinterher. Der Zeit ist es egal, sie mag es linear. Kein Mensch kann es ändern? Mag sein, aber ein Roman kann es.
Er kann, wie Tessa Hadleys Roman „Hin und zurück“, in der Gegenwart beginnen und dann drei Jahre zurückspringen, wie zum Beweis für die Schwerkraft, mit der die Vergangenheit an Menschen zerrt, wenn sie älter werden.
Der Nostalgiker F. Scott Fitzgerald hat das in „Der große Gatsby“ mit einem der elegischsten Schlusssätze der englischsprachigen Literatur beschrieben: „So regen wir die Ruder, stemmen uns gegen den Strom – und treiben doch stetig zurück, dem Vergangenen zu.“
Tessa Hadley formuliert es weniger fatalistisch, zögerlich vorwärtsgewandt, aber auch bei ihr hat der Lebensfortschritt eine drastische nautische Note: „Egal, welche Geschichten man sich und anderen erzählte, in Wirklichkeit stand man immer ungeschützt und nackt in der Gegenwart, ein Bug, der neue Wasser zerteilte“.
Klingt das nach Midlife-Crisis? Jedenfalls geht es ums mittlere Alter und darum, wie zwei, die sich nahe- und wieder abhandengekommen sind, mit diesem hadern. Der Schriftsteller Paul lebt mit seiner Frau und ihren zwei kleinen Töchtern in einem Dorf in Südwales. Ab und zu bespricht er Gedichtbände im „Guardian“, während sie nebenan in ihrer Werkstatt alte Möbel restauriert – ein Familienidyll. Dann stirbt Pauls greise Mutter. Und es verschwindet seine 19-jährige Tochter aus erster Ehe und taucht in London wieder auf, schwanger, wohl von einem deutlich älteren Mann.
Familienspannungen und Klassenclash
Paul pendelt zwischen Cardiff und London, interessiert sich wenig für seine bald kriselnde Ehe, interessiert sich sehr für die Schwester seines neuen Quasi-Schwiegersohns Marek. Zeitweise zieht er sogar in die schäbige Wohnung am Londoner King’s Cross ein, in der die vier eine „dubiose Familie“ und WG bilden, zusammengeschweißt vom „Mysterium des kommenden Kindes“ seiner Tochter. Tagsüber liefert Paul mit Marek polnische Lebensmittel aus, in der Mittagspause gibt es statt Lyrikübersetzungen Krakauer mit Wodka-Cola.
Die Paradedisziplin der 1956 in Bristol geborenen Tessa Hadley sind die inneren (Familien-)Spannungen des britischen Bildungsbürgertums. Aber auch der Londoner Klassenclash, in dem man Paul vom Sozialbauvoyeurismus nicht ganz freisprechen darf, gelingt ihr überzeugend.
[Tessa Hadley: Hin und zurück. Roman. Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit. Kampa Verlag, Zürich 2021. 368 Seiten, 22 €.]
Man ahnt allerdings, dass das alles nicht von Dauer sein und Paul zeitnah von seiner Vergangenheit eingeholt werden wird. Nebenbei wird eine Affäre erwähnt, die er mit einer Frau aus Cardiff hatte. Aus ihrer Sicht ist die zweite Hälfte des Buches erzählt. Hier ändert sich das Roman-Zeit-Kontinuum.
Die Bibliothekarin Cora und Paul lernen sich im Zug von Cardiff nach London kennen. Sie unterhalten sich über Marx und Henry James, verlieben sich in ihre Vorstellung vom jeweils anderen, verlieben sich auch in den schwebenden Gegenwartsraum der Zugstrecke, der bei ihrem ersten, stationären Date in der walisischen Hauptstadt schon passé sein wird: „Vielleicht magst du mich nicht, wenn du mich kennst.“ – „Ich mag dich. Aber das ist das Geringste.“
Eine nachdenkliche Flüchtigkeitstragik
Obwohl sie stellenweise den Kitsch streift, glückt Hadley mit ihrer Figurendynamik doch eine gefühlstiefe, völlig untheoretische Betrachtung des erwachsenen Zeitempfindens und davon, wie Lust und Liebe von ihm befeuert oder verhindert werden.
Pauls und Coras Eskapismus wird scheitern. Auch eine Rückkehr in die Kindheit ist unmöglich, wenn unlängst das letzte Elternteil gestorben ist. Cora, die ebenfalls den Tod ihrer Mutter verarbeitet, errechnet in ihrer Mittagspause imaginäre Menschenleben aus den Grabsteindaten eines Friedhofs. Paul streitet auf einer Party gegen das für ihn fälschlich beruhigende Konzept der historischen Harmonie: „Geschichte ist die Geschichte von Verlust.“ Wohin also Zuflucht nehmen? An die Zukunft kann man sich ja nicht erinnern.
Es ist dieser vermeintlich banale Umstand, der der Geschichte die nachdenkliche Flüchtigkeitstragik gibt, mit denen Hadley auch ihre jüngsten Romane „Zwei und zwei“ und „Damals“ grundiert hat. In „Hin und zurück“, im Original schon 2011 unter dem Titel „The London Train“ erschienen, lässt sie Cora einmal zu ihrem Mann sagen, sie habe „das seltsame Gefühl, als hätte sich unsere Gegenwart schon in Vergangenheit verwandelt und wir hätten auch schon mit ihr abgeschlossen“.
Das klingt nach dem berühmten Fitzgerald-Diktum über den Bedeutungshunger der Erinnerung. Bei Hadley schimmert aber schließlich eine lakonische Gegenwartstoleranz hindurch: „Das Problem war, dass man immer noch lebte, bis zum Ende. Man musste etwas tun.“ Für die Figuren dieses lebensklugen Romans ist das mitunter eine Qual. Aber auch ein Mandat, seine Zeit nicht nur mit Erinnern zu füllen, sondern ebenso mit Geistesgegenwart.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: