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Die dänische Schriftstellerin Solvej Balle.

© IMAGO/TT/IMAGO/Fredrik Sandberg/TT

Solvej Balles Roman „Berechnung des Rauminhalts“: Hinein in die Jahreszeitenmaschine

Die dänische Autorin führt ihr vielbändiges und groß angelegtes Romanprojekt fort. Für die ersten drei Teile bekam sie schon den Literaturpreis des Nordischen Rats 2022.

Von Anja Kümmel

Stand:

Alles begann im Zimmer Nummer 16 des Hôtel du Lison in Paris: Hier musste Tara Selter, Antiquarin auf Dienstreise, eines Morgens feststellen, in einer Zeitschleife festzustecken. Nach einem Jahr – oder besser gesagt, nach 365 achtzehnten Novembern – kehrt sie dorthin zurück, in der Hoffnung, ein Schlupfloch im „Mahlstrom der Wiederholungen“ zu finden.

So endet der erste Band des groß angelegten Romanprojekts mit dem etwas kryptischen Titel „Über die Berechnung des Rauminhalts“ der dänischen Autorin Solvej Balle. Für die ersten drei Bände erhielt sie den Literaturpreis des Nordischen Rats 2022; vier weitere Bände sollen folgen.

Taras Hoffnung wird zerschlagen: Sie bleibt gefangen im achtzehnten November, zählt weiter die Tage, führt weiter akribisch Buch über die Zeit, die für sie verstreicht, für alle anderen jedoch stillsteht. Erstaunlicherweise wird das nie langweilig, weder bei # 368 noch bei # 1081. Und das, obwohl „Berechnung des Rauminhalts II“ auf rasante Action und abenteuerliche Erklärungen im Stil einer Science-Fiction-Geschichte verzichtet.

Besonnen und präzise

Auch Klamauk und eine vorhersehbarer Moral à la „Und täglich grüßt das Murmeltier“ sucht man vergeblich. Stattdessen erzählt Balle mit ruhig voranschreitender Besonnenheit, lässt ihre Protagonistin präzise beobachtend durch die Tage gleiten und erweitert zugleich wie nebenbei den Reflexionsraum: Es geht um Vergänglichkeit und die Phasen der Trauer, um Erinnern und Vergessen, den Körper und seine Veränderungen, Taras Beziehungen zu Menschen und Dingen, ihre Positionierung in Raum und Zeit.

Stand in Teil eins der Mikrokosmos einer Paarbeziehung und Taras Entfremdung von ihrem Mann – jeden Morgen musste sie ihm aufs Neue ihre Anwesenheit im Haus erklären, wie einem Demenzpatienten – im Fokus, verschiebt Balle in Teil zwei den Horizont: Tara verlässt ihren Heimatort und begibt sich auf die Suche nach den Jahreszeiten.

Auf ihren Reisen von Nord- nach Südeuropa findet sie den Winter, den Frühling, den Sommer, zusammengebastelt aus Fragmenten des November, und findet, wenn schon nicht aus der Zeitschleife heraus, so doch hinein in „eine offene Jahreszeitenmaschine, in die ich immer wieder einsteigen kann“. Aber: Was macht eigentlich Jahreszeiten aus? Sind sie meteorologische Phänomene, oder vielmehr erinnerte Idealbilder? Zwar kann Tara am 402ten achtzehnten November mit ihrer Familie Weihnachten feiern, und von der Pute bis zum Rosenkohl scheint alles perfekt – doch den Christmas Pudding muss sie mit ins Bett nehmen, um am nächsten Tag noch davon essen zu können, wie es die Familientradition verlangt.

Die Reibung zwischen dem Stillstand der Zeit und Taras Eingreifen darin gehorcht bestimmten vagen Grundsätzen, nicht aber starren Regeln, wissen wir von Band eins. „Warum sich die Dinge auf diese oder jene Weise aufführen“ geht Balle in Teil zwei auf den Grund, und mit jeder noch so banalen Begebenheit fügt sie dem Mysterium weitere Dimensionen hinzu, mal philosophisch tiefgründig, mal durchzogen von feinem Humor: „Wieso ein Buch mit den Aufzeichnungen fast eines Jahres weniger dazu neigt, bei mir zu bleiben, als eine einzelne Wintersocke, ist eine nach wie vor ungeklärte Frage.“

Wofür die Zeitschleife metaphorisch stehen könnte, mag man sich fragen, wenn der Roman keine Science Fiction ist. Fährten legt Balle genug aus. Welche Lesart die richtige ist, ob es eine richtige Lesart gibt, bleibt hingegen so offen wie die „Unentschiedenheitszone“ um die Dinge, mit denen ihre Protagonistin interagiert.

Der meditative Sog jedenfalls, den „Über die Berechnung des Rauminhalts II“ entwickelt, neigt dazu, eine ganze Weile bei einem zu bleiben, lange nachdem man das physische Buch aus der Hand gelegt hat.

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