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Kultur: Something like a Schrei

Es kann so deprimierend sein, jung und Musiker zu sein und in einem Orchester zu sitzen. Nicht wenige erträumen sich dann eine andere Zukunft: in einem Spitzenorchester, dem ein Top-Dirigent vorsteht.

Es kann so deprimierend sein, jung und Musiker zu sein und in einem Orchester zu sitzen. Nicht wenige erträumen sich dann eine andere Zukunft: in einem Spitzenorchester, dem ein Top-Dirigent vorsteht. An der Musikhochschule Hanns Eisler können sie sich ihre Träume schon während des Studiums erfüllen. Hochschuldirektor Christhard Gössling hat Pult-Stars in sein Haus gelockt, um mit den Studenten zu arbeiten. Gössling ist nämlich nicht nur Direktor, sondern zugleich Solo-Posaunist der Philharmoniker und wollte seine Verbindungen nicht ungenutzt lassen.

Nachdem im April letzten Jahres Nikolaus Harnoncourt den Anfang gemacht hatte, hat sich jetzt Kent Nagano, der Chefdirigent des DSO, bereit erklärt, im Konzerthaus am Gendarmenmarkt zweimal zwei Stunden das Talente-Orchester anzuleiten. Das Besondere dieser öffentlichen Probe ist nicht nur, dass die Musiker lernen, wie es ist, mit einem großen Dirigenten zu spielen. Wer immer schon wissen wollte, was der Dirigent eigentlich macht, wenn er nicht im Konzert bedeutungsschwangere Gesten verabreicht, kann hier die Wahrheit erfahren; nämlich, dass die Orchesterprobe der größere Teil des Eisbergs ist, der unter Wasser bleibt.

Nagano hat ein Werk eines seiner Lieblingskomponisten auf die Pulte legen lassen, die selten zu hörende Suite "Des Canyons aux Étoiles" des vor zehn Jahren verstorbenen Olivier Messiaen. Man sieht ein riesiges Sinfonieorchester, das aufgestockt ist durch alle erdenklichen Schlagzeuge und Klavier. Messiaen hat zudem jedem Instrument, auch den Streichern, eigene Stimmen zugewiesen. Nagano muss sich folglich fast allen Musikern einzeln zuwenden. Er geht zu den Celli hin und erprobt mit jedem für sich die Möglichkeiten, den Bogen nicht wie üblich vor, sondern hinter dem Steg über die Seiten zu ziehen. "Es soll sein something like a Schrei!" Nach einigen Versuchen kommt tatsächlich ein grunzender Laut hervor. Messiaens Partitur äußert ständig Sonderwünsche. Ein Trompeter muss einmal nur auf dem Mundstück blasen. Der Kommentar von Nagano: "Wissen sie, Messiaen mochte nicht so weit gehen wie seine Zeitgenossen, aber ein bisschen Experiment sollte schon sein. Das hier muss naiv klingen, sie brauchen es nicht präzise zu spielen. Please, more imagination."

Nagano traut blumigen Umschreibungen nicht, er zieht technische Erläuterungen vor. Der Bauplan bleibt in seinem Kopf, mit den Musikern geht er die Details durch. Am Ende setzt er, nachdem jeder einzelne Mosaikstein poliert ist, alles zusammen. Trotzdem erfährt man über die Musik mehr als aus jedem Programmheft. Studierende und Zuschauer können sich schon auf das nächste Mal freuen, da kommt Simon Rattle.

Felix Losert

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