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Chamäleon mit Kontinuitätsbewusstsein. Herbie Hancock 2013 beim Northsea Jazz Festival.

© Paul Bergen/p-a/dpa

Musikalische Poetik: Spiele nie die Butternoten

Buddhismus macht kreativ: Der amerikanische Pianist Herbie Hancock hält als erster Jazzmusiker die berühmten Norton Lectures der Harvard University

Von Gregor Dotzauer

Fast ein Jahrhundert brauchte die Kommission der Harvard University, um in Gestalt des Pianisten Herbie Hancock einen Jazzer auf die Charles Eliot Norton Professorship in Poetry zu berufen. Wie es kommen konnte, dass die amerikanischste aller Kunstformen so hartnäckig ignoriert wurde, lässt sich am allerwenigsten mit der Gegenfrage klären: Warum überhaupt Musik, wenn die Norton Lectures der Poesie gewidmet sind? Denn es ging ihnen, seitdem sie 1925 gestiftet wurden, immer um „poetry in the broadest sense“ – neben der Literatur also auch um Malerei, Architektur und sogar Design. Sie handelten, um Platons schöne Definition der poietike techne, der Kunst des Hervorbringens, zu bemühen, vom Geheimnis, wie es gelingt, etwas, „das vorher nicht da war, ins Dasein zu überführen“.

Als mit Igor Strawinsky 1939 der erste Musiker die Norton Lectures übernahm, schlummerte Herbie Hancock noch im Bauch seiner Mutter. Er kam erst im April 1940 in Chicago zur Welt. Die 74 Jahre, die er inzwischen zählt, sieht man ihm nicht an – geschweige denn, dass man sie ihm anhört, wie das abschließende Konzert beweist. Das revolutionäre Ungestüm, mit dem er in den sechziger Jahren neben Tony Williams, Ron Carter und Wayne Shorter das Miles Davis Quintett zu einer Interaktionsdichte anstachelte, wie es sie im Jazz zuvor nicht gab, ist zwar dahin, aber die Selbstverständlichkeit, mit der er sich zwischen Bop, modalem Jazz, Funk und Neoimpressionismus seinen Weg bahnte, für nachfolgende Generationen nach wie vor beispielhaft.

Die sechs Vorlesungen unter dem Titel „The Ethics of Jazz“, die er zwischen Anfang Februar und Ende März im Sanders Theatre, dem Harvard-Audimax, hielt, sind denen seiner Vorgänger Leonard Bernstein, John Cage, Luciano Berio oder Daniel Barenboim darin verwandt, dass sie weit über alles Handwerkliche hinausgehen. Ja, sie kreisen bei allen Anekdoten, in denen er von Chris Anderson, Donald Byrd oder Eric Dolphy erzählt, seinen Lehrern und Mentoren, um eine Grundhaltung zur Welt. Für Hancock ist alles Musikalische nur ein Gleichnis – und zwar für die Buddhanatur des Menschen.

Wie sein Freund, der Saxofonist Wayne Shorter, gehört er Soka Gakkai an, einer 1930 gegründeten Religionsgemeinschaft, die sich auf die Lehren des japanischen Mönchs Nichiren aus dem 13. Jahrhundert bezieht. In „Buddhismus und Kreativität“, der fünften Vorlesung, die wie alle übrigen (mit Ausnahme der vierten) online zu sehen ist, erinnert er sich noch einmal, wie ihn der Bassist Buster Williams 1972 initiierte. Und er macht klar, dass das Chanten des Nichiren-Mantras Nam Myoho Renge Kyo – die ehrfürchtige Bezeichnung des Lotos-Sutra – für ihn nie einfach Mittel zum Zweck eines besseren Musizierens war.

Hancocks Lehren gehen nirgends über das kleine Einmaleins einer östlich geprägten Kreativitätsphilosophie hinaus. Einen Begriff von Weisheit, der alles positive Wissen hinter sich gelassen hat. Eine Idee von Freiheit, die sich im Improvisieren nur artikuliert. Und einen Traum vom unbegrenzten Potenzial eines Wandels, der an spirituelles Wachstum gekoppelt ist – und aus alledem noch politische Friedensfunken schlägt. Doch sie leben von der Autorität, die Hancock als Musiker erworben hat – und von der demutsvollen Überzeugungskraft, mit der er sie in freier, allerdings gut eingeübter Rede vorträgt.

Was mitunter simplizistisch wirkt, ist zugleich jene so schwierig zu erreichende Klarheit und Einfachheit, die nichts als den Mut braucht, an dem festzuhalten, was man als das Eigene begreift, und das über Bord zu werfen, was einen gefangen hält. „Die Weisheit von Miles Davis“, der er sich zum Auftakt widmet, bestand dabei meist nur in Fingerzeigen. „Don't play the butter notes“, krächzte ihm der Trompeter mit seiner kehlkopflosen Stimme zu, als er sich wieder einmal in Wiederholungen wand. Eine Aufforderung, auf die er sich zunächst keinen Reim machen konnte, bis er beschloss, die allzu offensichtlichen Nägel und Schrauben im funktionsharmonischen Gerüst – die Terz und die Septime - einfach wegzulassen. Im Nu hatte er zu einer neuen Offenheit gefunden.

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