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Steht Céline in nichts nach: Peter Flamms 1926 veröffentlichter Debütroman „Ich“ wurde neu aufgelegt
Wiederentdeckt: Peter Flamms Debütroman „Ich?“ über einen Heimkehrer aus dem Ersten Weltkrieg ist ein Vexierspiel von großer Sogkraft.
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„Ich ist ein anderer“ lautet einer der gewichtigsten und folgenschwersten Sätze der Literatur überhaupt. Er stammt vom französischen Dichter Arthur Rimbaud, der 1871 in seinen „Briefen des Sehers“ eine Poetik radikaler Entgrenzung forderte. Die Wirkung dieses Satzes auf die klassische Moderne und auch auf die schreibende Zunft danach ist gewaltig.
Noch ein Jon Fosse übernimmt ihn eins zu eins als Titel für den zweiten Band seiner weltweit gefeierten „Heptalogie“ (auf Norwegisch: „Eg er ein annan“), deren Erscheinen gerade einmal zwei Jahre zurückliegt.
Frei nach dem Motto: Wenn doch die inhaltliche Stoßrichtung klar ist, wozu sich noch die Mühe machen und ihn spielerisch variieren – wie einst etwa Max Frisch, durchaus nicht unelegant, mit „Mein Name sei Gantenbein“, einem Pendant wiederum zu Ingeborg Bachmanns Roman „Malina“, worin ebenfalls Identitäten dekonstruiert werden?
Entgrenzung und neues Ich
Raffinierter ging der Schriftsteller Peter Flamm vor, als er sein 1926 bei S. Fischer erschienenes Debüt, das jetzt in ebendiesem Verlag neu aufgelegt wurde, lakonisch „Ich?“ nannte.
Flamms Romantitel ist nicht weniger programmatisch zu verstehen als Rimbauds Formel. Es geht um die totale Infragestellung des Ichs vor dem Hintergrund konkreter Erlebnisse, die – allerdings nicht wirklich freiwillig – zu einer Entgrenzung führen und ein neues Ich erzeugen.
Die Erlebnisse, das sind die extremen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, der „Ich“-Erzähler ist ein traumatisierter Kriegsheimkehrer, der sich eine neue Identität zugelegt hat. „Wie soll ich das erzählen mit einer Zunge, die nicht meine, in einem Mund, der nicht meiner?“, heißt es da. Oder: Wie sollen Sie mir glauben, der ich mir selber nicht glauben kann?“
Eigentlich ist sein Name Wilhelm Bettuch, als Soldat auf dem Schlachtfeld stiehlt er dem Gefallenen Hans Stern, der im zivilen Leben dem Beruf eines Chirurgen nachgeht, den Pass und kehrt als ebendieser in dessen bürgerliches Leben mit Frau und Hund zurück.
Wieso ihn Sterns Frau Grete und seine Freunde erkennen und ihm auch das Chirurgen-Handwerk nicht schwerfällt, klärt sich nicht. Das ist aber keine Plotschwäche, sondern, im Gegenteil, auf ein Konzept intendierter Unsicherheit zurückzuführen, die den Ich-Erzähler befällt und die sich auf den Leser überträgt – wenn auch nicht auf den misstrauischen Hund, der hier vielleicht weniger den Betrug als Wahnsinn wittert.
Mitreißender Stil
Flamms mitreißender Stil und der innere Monolog – oder vielmehr ein Zwiegespräch mit sich selbst –, tun ein Übriges, um einen faszinierenden, rauschhaften Fluss zu erzeugen, der bis zur letzten Seite an Kraft nicht verliert. Vergleichen lässt sich das gut mit dem Schreiben Louis-Ferdinand Célines, namentlich mit seinem berühmten Opus magnum „Reise ans Ende der Nacht“ von 1932, dessen Protagonist ebenfalls aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrt, Medizin studiert und schließlich eine psychiatrische Anstalt leitet.
Steht Céline in nichts nach
An rauschhafter Drastik steht „Ich?“ auch Célines kürzlich posthum erschienenem „Krieg“ nicht nach. Einreihen lässt sich Flamms Roman bei allen Unterschieden durchaus neben Klassikern wie Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ oder Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“, inhaltlich wie sprachlich wurzelt er im Expressionismus, der sich wenige Jahre früher bereits den Themen Tod, Wahnsinn und Entfremdung widmete und den Ich-Zerfall literarisch regelrecht zelebrierte. Er traf einen Nerv.
Aber wer ist dieser Peter Flamm, der der in den zwanziger Jahren in Deutschland ein durchaus bekannter Schriftsteller war und etwa mit seinem berühmten und wohlmeinenden Verlagskollegen Thomas Mann brieflich korresponierte?
Geboren wurde der Neffe des Verlegers Rudolf Mosse 1891 in Berlin als Erich Mosse und schrieb nach seinem sehr erfolgreichen Erstling noch drei weitere Romane. Als Jude floh er 1933 über Paris nach New York, wo er Bekanntschaft mit Charlie Chaplin und Albert Einstein schloss, sich – jetzt unter dem Namen Eric P. Mosse – als Psychiater niederließ und als solcher etwa William Faulkner behandelte. Peter Flamm ist sein Pseudonym und die Autorenidentität entsprechend ein Vexierspiel wie der Roman selbst.
Mit abgedruckt in der Neuauflage ist ein 1959 bei einem großen internationalen PEN-Kongress in Frankfurt am Main gehaltener Vortrag mit dem Titel „Rückblick“ (der eigentlich eine eigene Besprechung verdiente). Darin gibt sich Flamm respektive Mosse als Freudianer zu erkennen und er zitiert (aus dem Gedächtnis, ganz sicher ist er sich nicht) Ibsen, der angeblich schrieb: „Leben heißt: Dunkler Gewalten Spuk bekämpfen in sich, Dichten: Gerichtstag halten über das eigene Ich.“ Und damit ist auch Flamms Roman, in dem sich das Ich buchstäblich vor einer Reihe von Richtern in einem Prozess zu verantworten hat, ganz gut auf den Punkt gebracht.
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