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Szene aus Michaels Reise

© Holland Fetsival

Stockhausen in Amsterdam: Überwältigung im Universum

Das Holland Festival feiert den Komponisten Karlheinz Stockhausen mit einem "Licht"-Marathon in einem ehemaligen Gasometer

Musik sollte man hören. Von ihr zu lesen kann immer nur Ersatzhandlung sein, triftig wie eine Kochshow, trocken wie ein erzähltes Mittagessen, dies gilt für Kiss ebenso wie für Beethoven, ganz besonders aber für Karlheinz Stockhausen und seine einzige Oper, deren Titel er selbst nur in Grossbuchstaben schrieb: LICHT.

Über diese auf sieben Tage der Woche verteilte „Licht“-Heptalogie wurde schon so viel berichtet, dass sie mehr Legende ist, denn Ereignis – und ein Fall für das Guinessbuch der Rekorde: In summa dauert das Werk 29 Stunden, es schlägt damit, rein quantitativ, Richard Wagners „Parsifal“ um knapp sieben Längen. Unbezahlbar, unaufführbar, überheblich und unmöglich, lautet deshalb überwiegend das Urteil der Intendanten. Auch Polemiken über Stockhausens Sendungsbewusstsein, seine hybride Privatreligion, seinen Harem und nicht zuletzt seine politische Entgleisung aus Anlass des Terroranschlags 9/11 haben die Rezeption seiner Musik immer mal wieder überlagert. Immerhin, etliche Teilstücke von „Licht“ waren schon live zu erleben, in der Opernstadt Berlin zuletzt 2015, als das Ensemble Musikfabrik mit „Michaels Reise“ bei den Festwochen gastierte, dem zweiten Akt aus „Donnerstag aus Licht“. Doch im Ganzen, von Anfang bis Ende, wurde das Werk noch nie aufgeführt, nirgendwo. 

Die Hälfte des "Licht"-Zyklus ist in Amsterdam zu erleben

Jetzt sind wir der Sache wieder ein Stück näher gekommen. Gut die Hälfte des Œuvres, nämlich 15 1/2 Stunden „Aus Licht“ werden zur Zeit beim Holland Festival in Amsterdam gezeigt, in einer Revue ausgewählter Solo-Szenen, Chöre und rein elektronischer Musiken, zusammengestellt aus allen sieben Opern. Drei Tage und Nächte dauerte das Eröffnungs-Weekend dieses „Licht“-Marathons im Gashouder, einem stillgelegten Gasometer auf dem Gelände des Kulturparks Westergasfabriek, wo zeitgleich ein Volksfest gefeiert wird, mit Rummel, Bitterballen und Bier. Hat man den Krawall hinter sich gelassen, betritt man den riesigen, hohen, leeren, kühlen Gasometer, kommt man quasi abermals ins Offene hinaus – um alsbald abzutauchen in eine bewegliche Welt aus Licht, Schweigen und Klängen, Farben und Tönen. Allein das ist pure Überwältigung! 

Pierre Audi, verantwortlich für die Regie, hat im Grunde nichts weiter getan, als diesen Riesenindustrieraum zu beleben: Diagonal sich wölbende LED-Bögen, aus der Decke säulenartig in den Boden projizierte Lichtpfeiler, einander überblendende Filme und bewegliche Flakscheinwerfer verwandeln ihn, von Szene zu Szene. Aus der Kirche geht es stracks auf den Kriegsschauplatz hinaus, aus dem Kinderzimmer in den Weltraum. Zugleich funktioniert der Gashouder als „Salle modulable“,  mit zwei Haupt- und mehreren rasch auf- und wieder abbaubaren Nebenbühnen, er ist ideal auch für die Stockhausensche Spatialität der Raummusiken (Sounddesign und musikalische Leitung: Kathinka Pasveer).

Es geht um den Kampf Gut gegen Böse, im Großen wie im Kleinen

Auch das Publikum, bis zu tausend Leute pro Vorstellung, zieht um, je nachdem, wo die Musik gerade spielt. Guckt und hört mal nach hinten, mal nach vorn oder tortenstückartig zentriert auf einen Kreis in der Mitte des Gashouders. Und wird so alsbald zum aktiven Teilnehmer der panoptikumartig wechselnden „Licht“-Darbietungen, die ein Gesamtbild des menschlichen Daseins entwerfen und deshalb jeden treffen, auch wenn es manchmal so aussieht, als ginge es nur um die persönliche Idiosynkrasie eines Einzelnen. Nicht jeder von uns, zum Beispiel, musste schon als Fünfjähriger mit seinem Vater zur Jagd gehen und Hasen totschießen helfen, wie der kleine Karlheinz. Und doch versteht vermutlich jeder das Gefühl der Ohmacht des kleinen Michael-Trompeters, der es lieber mit den Hasen hält als mit seinem Luzifer-Vater, der mit Posaunenstößen um sich schießt.

Denn darum geht es in „Licht“: Um den Kampf zwischen Gut und Böse auf der Welt, im Großen wie im Kleinen. Um Vater, Mutter, Kind und Weltparlament, Engelsprozession und schwarze Katze, Heliokopterflug und Auferstehung, und um die muntere Tücke Luzifers, der zwanghaft vergebens bis 13 zählt, aber doch nur über 11 Töne der Superformel verfügt.  Nicht zu vergessen: der vollkommenen Glanz der Michaels-Formel (mit 13 Tönen) sowie die Befruchtung Evas (12 Töne) durch einen durchgeknallten Konzertpianisten. Man folgt alledem mit wachsender Begeisterung, von der Groteske bis ins Allerheiligste, vom Himmel auf den Misthaufen, der Musik entgegen hörend, von ihr hineingezogen, bezaubert und gefangen. Keine Spur von Stress. Vielmehr ergibt sich das, fließend, von selbst.

400 Mitwirkende stürzen sich in das Abenteuer ihres Lebens

Mag sein, dass die besondere Leichtigkeit, mit der sich die Musik Stockhausens an diesem Wochenende erschließt, auch an der Perfektion und Intensität der Aufführung liegt. Es gibt keinerlei Ausfälle, alles funktioniert fantastisch. Kinder- und Profichöre singen ebenso so lupenrein wie die Solisten. Jeder einzelne Bratschist, Posaunist oder Schlagwerker fügt sich betörend klar ins fällige  Diminuendo oder Descrescendo, jede Pause sitzt auf dem Punkt, jedes Fortissimo knallt so drein oder endet so abrupt, wie es sein muss. Und all das wiederum ist zurückzuführen darauf, dass von den über 400 Mitwirkenden allein 194 junge Musiker sind, die sich hundertprozentig in das Abenteuer ihres Lebens stürzten. Vor vier Jahren hatte das Royal Conservatoire Den Haag, angestiftet von Renée Jonker, ein „LICHT Master’s programme“ aufgelegt. Einige Studenten, darunter die fünf atemraubend spielenden Michaels-Trompeter/innen, haben ihre Master mit Stockhausen absolviert. So etwas macht man nur einmal im Leben.

Als „Once-in-a-lifetime“-Veranstaltung hat das Holland Festival diese „Aus Licht“-Produktion angekündigt. Ursprünglich hätten es alle sieben Tage sein sollen, so war es geplant. Das Geld hat nicht gereicht, einige Kooperationspartner, darunter peinlicherweise die reiche und mit Spielstätten gesegnete Ruhrtriennale, hatten abgewinkt. Nun bleibt es dabei: Am 8.Juni heißt es im Gashouder wieder: „Licht aus“

Eleonore Büning

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