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Kultur: Tatis Enkel

Szene Frankreich: Die Compagnie 111 zeigt „Plus ou moins l’infini“ im Berliner Admiralspalast

Von Sandra Luzina

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Wenn man ein Mathematikerhirn mit dem geschmeidigen Körper eines Artisten paart, dann kommt dabei wahrscheinlich eine so wunderliche Produktion wie „Plus ou moins l’infini“ heraus. Das Bilderspektakel der Compagnie 111 ist nun bei dem Berliner Festival „France en scène“ zu sehen, das sich neben dem Theater vor allem dem Nouveau Cirque widmet.

Bei der Compagnie 111 ist der Mensch abwesend – jedenfalls in den ersten zehn Minuten. Die Zuschauer im Admiralspalast müssen sich zunächst in ein Schauspiel aus Licht und bewegten Objekten versenken. Leuchtende Stäbe sinken vom Himmel herab, senkrechte Linien vollführen ein exaktes Ballett. Hände sprießen wie ein Gewächs aus dem Bühnenboden und greifen vergeblich nach dem Licht. Eine Art Ur-Szene, die vom menschlichen Streben nach Perfektion erzählt. Zuerst aber wird hier ein Körperfantasma ausgebreitet. Einzelne Gliedmaßen liegen verstreut auf der Bühne, ein orientierungsloser Kopf sucht nach dem passenden Leib – was für eine merkwürdig zusammengesetzte Kreatur der Mensch doch ist! Alsbald bieten die Artisten all ihren Erfindergeist auf, um ihre unvollkommene Physis zu kompensieren. Ihrer Entwicklung zum Homo erectus, der bald zu technischen Hilfsmittlen greift, um die physikalischen Gesetze auszuhebeln, schaut man mit Vergnügen zu.

Die Produktion ist der letzte Teil einer Trilogie über den Raum, die sich vom Dreidimensionalen zum Eindimensionalen zurückbewegt. Für die Konzeption zeichnet Aurélian Bory verantwortlich, Regie führte wie in der Vorgängerproduktion „Plan B“ Phil Soltanoff vom Mad Dog Theatre aus New York, zwei Künstler, die künstlerisch sprichwörtlich auf einer Linie liegen, die strenge Raum- und Körper-Geometrie mit Bewegungswitz und Akrobatik kombinieren.

Wenn die sechs Akteure der Compagnie 111 in Anzug und Kostüm zu Kurz- oder Langstab greifen, dann mutet das wie ein Managertraining in freier Wildbahn an. Allerdings klaffen Idee und körperliche Ausführung schon mal auf drollige Weise auseinander. Wenn die sechs sich in der Disziplin des Stabweitsprungs üben, dann nähern sie sich dem Ideal der Schwerelosigkeit immer mehr an. Das Stück zeichnet eine Evolution nach: von der animalischen zur automatisierten Fortbewegung. Der Mensch passt sich mehr und mehr der Technik an und wird schlussendlich zu ihrem Sklaven: Hier sausen die Akteure schon mal wie Strichmännchen über die Bühne oder hängen wie Fahnen im Wind an ihren Stangen.

„Plus ou moins l’infini“ begeistert durch das ausgeklügelte Zusammenspiel aus Bühnentechnik und Bewegungsfantasie. Eine gut geölte Illusionsmaschinerie ist hier zu bestaunen, doch manche der Einfälle und optischen Tricks werden auch arg überstrapaziert. Zudem wird jeder Hops von einem Klingelton verstärkt. Doch die Artisten, allesamt Absolventen der berühmten Zirkusschule Centre National des Arts du Cirque bei Paris, überzeugen durch geschmeidige Komik – darin ganz Enkel von Jacques Tati.

Die Compagnie 111 aus Toulouse zählt zu den wichtigsten Vertretern des Nouveau Cirque, einer genuin französischen Erfindung. In den achtziger Jahren macht sich in Frankreich eine neue Künstlergeneration an die Erneuerung des traditionellen Zirkus. Die einzelnen Nummern werden abgelöst von Aufführungen, die einer narrativen oder konzeptuellen Dramaturgie folgen. Zirzensische Elemente werden mit anderen Genres wie Theater, Tanz, Musik und Performance verschmolzen. Große Experimentierfreude und eine schräge Poesie zeichnen auch die anderen Künstler aus, die bei „France en scène“ auftreten: die Compagnie Anomalie mit ihrer irrwitzigen Körper-Grammatik (30./31.3.) sowie Jean- Baptiste André, der mit den beiden Produktionen „intérieur nuit“ (23./24.3., HAU 3) und „comme en plein jour" (25.3., HAU3) nach Berlin zurückkehrt.

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