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Lethargie und Überlebenswille. Als schreibender Beobachter kehrte Teju Cole 2005 nach einer langjährigen Pause aus den USA erstmals wieder nach Nigeria zurück. Zur Neuausgabe seiner Aufzeichnungen steuerte er Fotografien bei, die im Laufe späterer Reisen entstanden.

© Teju Cole/Hanser Berlin

Teju Coles neues Buch: In Charons Werft

Zerrissen zwischen der Trägheit und dem Überlebenswillen eines Landes: Der New Yorker Schriftsteller Teju Cole ist für sein neues Buch zurück nach Nigeria, das Land seiner Kindheit und Jugend, gereist.

Von Gregor Dotzauer

Wer könnte sagen, aus welchen Fernen einen manchmal Gelesenes und schon halb Vergessenes überfällt und sich als eigene Erfahrung einnistet. „Es darf nicht erwähnt werden, aber hier ist viel unterdrückte Gewalt“, lautet so ein Satz, der den namenlosen Ich-Erzähler von Teju Coles Nigeria-Buch „Jeder Tag gehört dem Dieb“ mitten in Lagos heimsucht und ihm besser als jedes Wort, das er selber finden müsste, zu erklären scheint, was ihm auf seiner Reise widerfährt. „Deshalb sind die Einzelheiten so lastend. Und ist es so schwer, das andere zu sehen, das es auch gibt: einen gespiegelten Sonnenstrahl, der sich über die Hausmauer bewegt und durch den unwissenden Wald aus flimmernden Gesichtern gleitet, ein Bibelwort, das nie geschrieben wurde: ,Komm zu mir, denn ich bin widerspruchsvoll wie du selber.’“

Die Zeilen stammen aus Tomas Tranströmers Prosagedicht „Minusgrade“, und als Souvenir aus jenen Traum- und Dämmerbezirken, in denen sich der schwedische Lyriker am liebsten aufhält, sind sie nicht ganz von dieser Welt. Gerade in ihrer Ortlosigkeit vertragen sie sich aber mit der nach einem Regenschauer neu aufgeflammten Mittagshitze in der Zehnmillionenstadt. Sie treffen sogar genau das, was dem Erzähler im Gewoge des Busbahnhofs CMS auf Lagos Island durch den Kopf schießt: das Unheimliche abgedunkelter Wohnzimmer, in denen sich die Mittelschicht verschanzt, und die Kette von Leichen, die quer über den Atlantik bis nach New Orleans reicht, wo einst der größte Sklavenmarkt Amerikas beheimatet war.

Teju Cole hat schon mit "Open City" einen beispielhaften transkulturellen Roman geschrieben

Während ihm in Nigeria die Texte von Tomas Tranströmer und – mehr noch – Michael Ondaatje nachgehen, steigt eines schlaflosen Morgens, zurück in New York und den Fängen einer Malariaattacke entronnen, die Erinnerung an ein städtisches Labyrinth in ihm hoch, in dessen Mittelpunkt er sich einen Moment lang heimisch fühlte. Mit dem Blick in die Flucht einer Gasse kommen ihm diesmal eigene Worte. Aus den Eingängen der Häuser sieht er Bootsbuge ragen, bis er merkt, dass er sich in die Straße der Sargmacher verirrt hat, die fröhlich ihre Arbeit verrichten. Eine „Werft des Charon“ tut sich vor ihm auf, und mitten im Leben spürt er eine leise Drift, sich inmitten dieser selbstverständlichen Ordnung auf dem Styx einzuschiffen.

Wirkliches und Mythologisches, Afrikanisches und Europäisches durchdringen einander. Und wenn sich der latente Schrecken einmal offen Bahn bricht und vor den Augen einer Menschenmenge ein elfjähriger Dieb nackt in einen Reifen gesteckt, mit Benzin übergossen und angezündet wird, dann ist es ein Akt von Selbstjustiz, der im allgemeinen Chaos buchstäblich verraucht und allenfalls in digitaler Form, von einem Schaulustigen ungerührt gefilmt, ein makabres Nachleben im Netz findet.

Nigerianische Impression
Nigerianische Impression

© Tejju Cole/Hanser Verlag

Teju Cole, 1975 in Michigan geboren, in Nigeria aufgewachsen und zum Studium in die USA zurückgekehrt, wo er nun als Schriftsteller und Fotograf in Brooklyn lebt, hat 2011 mit „Open City“ einen transkulturellen Roman par excellence geschrieben. Auf langen Spaziergängen durch New York durchquerte sein Held die Schichten eines Landes, das seine eigene Gewaltvergangenheit seit 9/11 stärker denn je versteckt.

„Every Day Is for the Thief“, betitelt nach einem Sprichwort der Yoruba, demzufolge Gelegenheit zwar Tagediebe macht, der einzelne Tag aber dem gehört, der ihn sich zu eigen macht, ist das geringfügig ältere, außerhalb Nigerias nun aber, minimal retuschiert und mit neueren Fotos versehen, zum ersten Mal aufgelegte Buch. Mit liebevollem Ungeschick fiktionalisiert, ist es der Bericht aus einem Land, das 2005 auf dem besten Weg zu einem failed state war und schon dabei war, sich zu erholen, bis es die Islamisten von Boko Haram unter Kontrolle zu bringen beschlossen.

Teju Cole begibt sich direkt in die Fegefeuer von Nigeria

Das Ganze liest sich wie eine Fingerübung zu "Open City", die schon etwas von dem Essay, Reportage und Erzählung gleichermaßen überschreitenden Ton enthält, der ein Faszinosum des Romans ausmacht, und es deutet zugleich an, welche Tiefe das nichtfiktionale Buch über Lagos erreichen könnte, an dem er schreibt. Denn „Jeder Tag gehört dem Dieb“, durchgängig im Präsens gehalten, ist aus Blogeinträgen entstanden, deren Stärke vor allem in der fiebrigen Mitschrift alltäglicher Ereignisse liegt. Cole inspiziert und dokumentiert ein dysfunktionales, von Korruption auf allen Ebenen lahmgelegtes Sozialgefüge in Stadt und Land: „Die Systeme, die eine Mehrheit der Menschen aus der Armut herausholen könnten, werden an jeder Stelle ausgehöhlt. Weil jeder eine Abkürzung nimmt, funktioniert nichts, und das ist wiederum der Grund, abermals eine Abkürzung zu nehmen, um überhaupt etwas erledigt zu bekommen.“

Man begegnet Area Boys, die im Auftrag mafiöser Paten Bußgelder eintreiben und Gütertransporte kapern, von der Polizei, die selber gerne die Hand aufhält, aber gelegentlich im Dutzend in der Lagune von Lagos entsorgt werden. Man folgt Internetbetrügern in die Cybercafés von Lagos, wo sie Leichtsinnigen in Mails Ausschüttungen aus imaginären Fonds versprechen – gegen eine reale Vorkassengebühr. Vor allem aber wird man auf Schritt und Tritt mit Wegelagerern konfrontiert, die vom Flughafen bis zur Tankstelle schamlos ihren Obolus verlangen.

So mulmig einem bei alledem zumute werden kann, so farbig schildert Cole seinen Aufenthalt in den Fegefeuern Nigerias. Mit seinem Erzähler fühlt man sich zerrissen zwischen der Trägheit und dem Überlebenswillen eines Landes, das viel zu sehr mit seiner unmittelbaren Gegenwart beschäftigt ist, als dass es sich auch noch um seine Traditionen und Kunstschätze kümmern könnte. Man sieht den handwerklichen Pfusch, der einem aus jeder Ecke entgegenstarrt, und die religiösen Erlösungssehnsüchte, die evangelikale Prediger schüren – und damit auch die Radikalisierung von Muslimen bewirken. Am Ende hat man das Geschrei der Touts in den Ohren, die als eine Art Schaffner Passagiere in die schwarzgelben Danfo-Busse stopfen.

Von daher ist nichts leichter, als mit Teju Cole das Bedauern für all jene Schriftsteller zu teilen, „die ihren Stoff verschlafenen amerikanischen Vorstädten abgewinnen und Scheidungsszenen schreiben müssen, in denen lethargisches Geschirrspülen eheliche Kälte symbolisiert.“ Und die zwiespältige Freude, dass das Chaos, aus dem seine Stoffe sind, noch lange nicht aufgebraucht ist.

Teju Cole: Jeder Tag gehört dem Dieb. Aus dem Engl. von Christine Richter-Nilsson. Hanser Berlin 2015. 175 Seiten, 18,90 €.

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