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Blick in die Ausstellung.

© Magdalena Abakanowicz/Norbert Piwowarczyk/Tate Modern/Nationalmuseet Stockholm

Textile Territorien: Magdalena Abakanowicz in Lausanne

Bekannt für die monumentale Kraft ihrer Webkunst, würdigt nun eine große Ausstellung das Werk der polnischen Künstlerin.

Von Vojin Saša Vukadinović

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Die polnische Künstlerin Magdalena Abakanowicz (1930-2017) befreite das Weben aus dem Gefängnis des Nützlichen, des Dekorativen und des Zweidimensionalen, in das diese Technik seit Beginn der Menschheitsgeschichte eingepfercht gewesen war. Sie revolutionierte die Vorstellung dessen, was Handarbeit ist, und ließ Webkunst, die bis dato vor allem Wandschmuck war, zu Raum werden.

Sinnsprengende Kapazität

Schon ihr Frühwerk war von sinnsprengender Kapazität, weswegen in der Rezeption einmal das Wort „Abakane“ fiel, um dem Unklassifizierbaren wenigstens mit einer Namensabwandlung ihrer Schöpferin beizukommen. Ende der 1960er Jahre griff Abakanowicz die Bezeichnung selbst auf und nannte ihre heute bekanntesten Werke so. Hierbei handelt es sich um überdimensionierte und unergründliche Stoffkörper, die Brücken zwischen Gewobenem und Skulpturen sind, vorwiegend aus Sisal gefertigt.

Massenware für den Alltag

Während aus diesem Material auch Massenware für den täglichen Bedarf produziert wird, wirkt das, was Abakanowicz aus einzelnen Fäden zusammenfügte, wie dem Tor in eine andere Dimension entsprungen. Das liegt vor allem an den Formen dieser unwirklichen Gestalten, die sich zum Teil selbst verheimlichen, weil ihre exakten Konturen nicht auf einen Blick erfassbar sind und sie zudem leicht monströse Züge tragen. Wer vor sie tritt, fühlt sich unweigerlich klein und in ein anderes räumliches Verhältnis gerückt.

Die Oberflächen dieser Faserlandschaften sind uneben, von Linien und von Erhebungen durchzogen, die keiner Logik zu folgen scheinen. Öffnungen, Ausfransungen und farbliche Übergänge sorgen für kontinuierliche Variation. Kein Quadratzentimeter ist mit einem anderen identisch. Es macht den Eindruck, als seien Natur und Traum hier eins geworden, denn diese Kunstwerke sind roh und dennoch surreal, irritierend und anziehend zugleich, kaum kaschierte sexuelle Konnotationen inklusive.

Organische Umgebungen

Diese Suggestion von Lebendigem ist im Freien besonders eindrücklich. 1970 entstand der Dokumentarfilm Abakany (R: Jarosław Brzozowski/Kazimierz Mucha), für den die Abakane in den Dünen des Slowinzischen Nationalparks platziert wurden. Die sandige Hügellandlandschaft Pommerns transformierten sie in das, was ihre Urheberin einmal als „organische Umgebungen“ bezeichnet hat, einen der bekannten Welt trotzenden Raum. Bedeutsam ist dies vor allem deshalb, weil Abakanowicz ihre Karriere in einer sozialistischen Mangelwirtschaft begonnen hatte, in der Webmaterial begrenzt und Wohnraum kontingentiert worden war. Ihren Abscheu vor allen Kollektiven hielt sie nie zurück.

Nach einer Station in der Tate Modern sind die Arbeiten der bedeutendsten Vertreterin der polnischen Nachkriegskunst diesen Sommer in Lausanne zu bewundern, wo sie unter dem Titel „Textile Territorien“ bis zum 29. September ausgestellt sind. Am Lac Léman hatte Abakanowicz 1962 an der ersten Internationalen Biennale der Tapisserie teilgenommen und in der Galeristin Alice Pauli (1922-2022) eine wichtige Unterstützerin gefunden; dass ihr Schaffen dort posthum gewürdigt wird, ist folgerichtig.

Herausforderung der Gefühle

Zwei Säle in der ersten Etage des Musée cantonal des Beaux-Arts sind dem Frühwerk sowie einigen Zeichnungen und Skulpturen gewidmet, darunter Beschäftigungen mit der menschlichen Gestalt – Köpfe und Körper –, in denen der Horror der deutschen Besatzung Polens im Zweiten Weltkrieg anklingt, den die Künstlerin als Kind erlebt hatte und über den sie oft Auskunft gegeben hat. Den zweiten Stock bevölkern die Abakane. Da sie erfreulicherweise in größerer Anzahl gezeigt werden, kommen sie hier exzellent zur Geltung und lösen das ein, was Abakanowicz stets gefordert hat: mit Gewobenem die Gefühle von Menschen herauszufordern.

Abakan – Situation variable II von Magdalena Abakanowicz.

© Kunstsammlung der Stadt Biel. Foto: Norbert Piwowarczyk.

Dies gilt insbesondere für den „Abakan Situation variable II“ (1971), der wie ein Botschafter aus einer fernen Galaxie wirkt und dem Publikum die Seile, die aus ihm herauswachsen, wie Tentakeln entgegenstreckt – wobei nicht auszumachen ist, ob diese wohlwollend sind oder doch eher Unheilvolles ankündigen. Der „Abakan orange“ (1971) wiederum ist zweiteilig: Ein Part hängt wurmartig und schwerelos vertikal im Raum, der andere belebt den Boden in ovaler Form, um gemeinsam eine rätselhafte Symbiose zu bilden.

Bemäntelung für die Seele

Der „Abakan jaune“ (1970) strahlt derweil in prächtigem Goldgelb und präsentiert sein tauwerkartiges Innenleben. Und die mitunter mysteriöseste der hier gezeigten Arbeiten, der schwarze „Abakan janvier-février“ (1972), besteht aus zwei Hälften, die durch zwei Verdickungen zusammengehalten werden, die offen lassen, ob dies zugeneigte Abhängigkeit voneinander oder parasitäre Übernahme meint. Klar ist indes, dass die lebenslange Rebellion von Magdalena Abakanowicz durch ihre Hände ging. Sie verwandelte gewöhnlichen Stoff in eine Bemäntelung – weniger für den menschlichen Körper, der darin verschwinden konnte, als vielmehr für dessen Seele.

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