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Kultur: "The Cruise": Sehr allein auf dieser Welt

Für Timothy "Speed" Levitch ist eine Fassade nicht einfach eine Fassade. Er kann vor einem Haus stehen und mit bloßen Worten urbane Terracotta-Verzierungen in eine Wiese verwandeln, in eine Wellenbewegung oder das sanfte Stöhnen einer Frau kurz vor dem Höhepunkt.

Von Susanna Nieder

Für Timothy "Speed" Levitch ist eine Fassade nicht einfach eine Fassade. Er kann vor einem Haus stehen und mit bloßen Worten urbane Terracotta-Verzierungen in eine Wiese verwandeln, in eine Wellenbewegung oder das sanfte Stöhnen einer Frau kurz vor dem Höhepunkt. Und wenn die Kamera seinen Worten folgt, scheint es tatsächlich, als würden sich die Früchte und Girlanden und steinernen Brüste wie ein lebendiger Organismus heben und senken.

Tim Levitch ist ein Großstadtpoet, ein Nomade, der mit ein paar Habseligkeiten von Sofa zu Sofa zieht und mit seiner Eloquenz, seinen Neurosen, seiner Einsamkeit wie die Inkarnation von Manhattan wirkt. Gegen ihn verblasst Woody Allen zum Kunstprodukt. Er philosophiert und räsonniert, wütet gegen seine Mutter, gegen untreue Freunde und Agenten, die mit Herzblut und Tränen geschriebene Manuskripte noch nicht einmal lesen, er klagt über die Stadt wie über eine Geliebte, weil sie ihn manchmal zu hassen scheint. Und wird doch nie bitter.

Zwanzig Stunden in der Woche steht Levitch auf einem Doppeldeckerbus, die Haare im Wind, das zerschlissene Sakko um die Schultern, das Bordmikrofon fest in der Hand: "H. G. Wells schrieb einmal, die Geschichte von New York City zu erzählen bedeute, die Geschichte der Welt zu erzählen. Schnallen Sie sich an." Weltberühmte Namen, Gebäude und Straßenecken, das Flatiron Building, Washington Square; Anekdoten, Zahlen, die für gigantische Maßstäbe stehen; die Enge der Straßenschluchten und himmelstürmenden Spitzen des Chrysler Buildings, des Empire State, der Twin Towers - Levitch weiß nicht nur, dass er die spannendeste Stadt der Welt vorführt. Er erhöht die Spannung durch den Rhythmus seiner Erzählungen, will die Fahrgäste in ein neues Bewusstsein katapultieren. "Ich lerne im Lauf meiner Karriere allmählich, dass man von den Leuten nicht erwarten kann, dass sie ihre Seele auswechseln und jeden Tag ihres Lebens umschreiben, bevor sie den Doppeldecker besteigen." sagt er einmal. "Aber eigentlich erwarte ich es doch."

Levitch ist einer der Menschen, die das Wesen einer Stadt ausmachen, ein Original, wie es so nur an diesem Ort vorkommen kann. Der junge Regisseur Bennett Miller hatte von ihm gehört: "Ich wusste, dass er über einen archivarischen und wunderbar verzerrten Wissensschatz in Sachen New York verfügt, dass er 40 Theaterstücke geschrieben hat, die bis dahin niemand gelesen hatte, dass er unglücklich, lustig, pleite, obdachlos und leidenschaftlich ist. Und sehr allein auf dieser Welt." Also schulterte er die Kamera und folgte Levitch, bis er das Material für den schwarzweißen Dokumentarfilm "The Cruise" beisammen hatte.

"Cruise" heißt eigentlich Vergnügungsfahrt - und im schwulen Jargon das gegenseitige Begutachten auf der Straße. Für Tim Levitch bedeutet der Begriff mehr: Entwicklung, Freiheit, Bewegung, auch wenn sie kreisförmig ist - das Leben als Stadtrundfahrt. Wer mitkommen will, ist herzlich eingeladen. Bei aller Verschrobenheit hat er die Gabe, seine Zuhörer teilhaben zu lassen am Faszinosum New York.

Schwer zu sagen, ob "The Cruise" ein Film über Timothy Levitch oder über New York ist, die beiden sind unzertrennlich. Für Levitch sind die Stadt und ihre Gebäude lebendig, die steinernen Pfeiler der Brooklyn Bridge betrachtet er als seine Freunde. Man würde sich kaum wundern, wenn die Zuneigung auf Gegenseitigkeit beruhte.

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