zum Hauptinhalt
Serhij Zhadan mit einem Buch von Skovoroda.

© Yuriy Gurzhy

Ukrainisches Kriegestagebuch (152): Musik von Kampf und Erlösung

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

Stand:

11.7.2023

Als ich mit fünfzehn Reggaemusik für mich entdeckte, war ich zunächst verwirrt. Das Ganze schien mir zu melodisch, zu tanzbar, zu positiv. Ich war gerade auf Sex Pistols und den schmutzigen Sound des wütenden und depressiven postsowjetischen Punks aus. Gute Laune Mucke? Nicht für mich, danke! Mir fehlte jeglicher Kontext, das Grundwissen über Reggae – in Charkiw der frühen Neunziger gab es weder Musikzeitschriften noch Radiosender, die mir damit hätten helfen können. 

Ähnlich radikal wie Punkbands

Ich vermute, dass die ersten Platten mit jamaikanischen Sounds durch afrikanische Studenten nach Charkiw gekommen sind. Eines Tages bin ich bei einer Freundin, deren Mutter am Medizinischen Institut unterrichtete, auf das letzte Album von Bob Marley gestoßen. Ein Geschenk von Mamas Studenten sei es, meinte sie. Ich durfte die Platte ausleihen, nahm ein Wörterbuch zur Hand und hörte mir „Uprising“ von Anfang bis Ende an. Dabei habe ich parallel die auf dem Backcover abgedruckten Texte gelesen und musste feststellen, dass sie zum Teil genauso militant und radikal wie bei manchen Punkbands waren: 

Check out the real situation / Nation war against nation ... / it seems like total destruction’s the only solution

Auch bei den Songs von The Clash gab es deutliche Reggae-Elemente, die zu ihrer aggressiven Musik ganz natürlich zu passen schienen, stellte ich fest. Und sogar bei einigen sowjetischen Punkbands konnte ich hier und da etwas reggaehaftes wahrnehmen. Doch warum kommt mir die ganze Zeit der Krieg von heute in den Sinn, wenn ich über die jamaikanische Musik und meine Heimat in den Neunzigern spreche?

Verwundet und in russischer Gefangenschaft

Ein Charkiwer Musiker namens Aleksandr Gordeev spielte mir damals meine zweite Reggaeplatte vor (von Massive Dread habe ich übrigens nie wieder etwas gehört). Gordeev kannte jeder in Charkiw, er war ein leidenschaftlicher Musikenthusiast, der die Mundharmonika wie ein alter Bluesman beherrschte. Im März dieses Jahres tauchte er plötzlich in den ukrainischen Nachrichten auf – so erfuhr ich, dass es nach langer Suche gelungen war, seinen Sohn zu finden, der gekämpft hat und seit Wochen als vermisst galt. Es stellte sich heraus, dass er verwundet wurde und in russische Gefangenschaft geriet. Unweit von Bakhmut lag er 42 Tage in einem Keller neben seinen toten und schwerverletzten Kameraden, ohne Essen und Trinken.

Myroslaw Kuvaldin aus Kobeljaky bei Poltawa gilt als der erste und bekannteste ukrainische Reggaemusiker. Bereits im Jahr 1991 begann er mit seiner Band The Vyo, exotische jamaikanische Klänge mit der ukrainischen Sprache zu mischen. Seit über einem Jahr dient er nun in der Region Donezk bei der 101. Brigade der TRO Transkarpatien.

Spenden für die Armee

Das bis jetzt stärkste ukrainische Reggaealbum, Homin’ Songs, wurde 2014 von Taras Chubai und Kozak System produziert. Darauf interpretieren sie ukrainische Volkslieder – einige klingen so frisch, als wären sie gestern geschrieben worden, sind jedoch jahrhundertealt. Seit Monaten ist Kozak System auf einer unermüdlichen Tour, bei der die Band Spenden für die Armee sammelt. Aktuell durchqueren die Jungs Städte und Dörfer der Ukraine, im August steht ihre Konzertreise in die USA an.

Letztes Jahr entschieden Serhij Zhadan und ich uns dazu, ein Album mit den Texten von Hryhorij Skovoroda aufzunehmen. Als wir uns fragten, welche Art der Musik dazu überhaupt geeignet wäre, kam mir sofort Reggae in den Sinn. Die besten Reggaesongs handeln von Göttlichen, vom Kampf und von Erlösung. Sanfte Protestmusik, was heute besser zur Poesie des ukrainischen Sokrates aus dem 18. Jahrhundert passen? 

Seit Monaten arbeiten wir nun an SkovoroDance – Serhij adoptiert Skovorodas Texte, ich schreibe die Musik in meinem Studio. Auf dem Weg zum Konzert in Nürnberg letzten Samstag hatten wir erneut Zeit zusammen und nutzten sie, um eine ausgiebige Liste von Musiker*innen zu erstellen, die wir gerne bei den Aufnahmen dabei hätten. Am 1. August fahre ich nach Charkiw, wo bereits ein Studio für uns reserviert ist. Aus dem Traum wird endlich Wirklichkeit! Darauf stießen wir im Bordrestaurant mit Apfelschorle an.    

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })