
© Yuriy Gurzhy
Ukrainisches Kriegstagebuch (108): Unser alter Punkrock wird wiederentdeckt
Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.
Stand:
Er wacht jetzt immer gegen 5 Uhr morgens auf, meinte Wasil, jeden Tag, so geht es ihm seit dem 25. Februar. Damals weckte ihn der Lärm der Explosionen, erzählte er mir auf dem Balkon seiner Charkiwer Wohnung, als ich ihn im Dezember besucht habe. „Siehst Du die Schule da? Dort ist im März eine Rakete gelandet. Auf der anderen Seite ist ein Kindergarten, der wurde damals auch beschossen, sieht man von hier nicht, kannst Du Dir auf dem Rückweg anschauen.“
Gestern spielte Wasil mit seiner Band Papa Karlo in Erfurt, ich hab ihn abends angeschrieben, weil ich wissen wollte, wie es gelaufen ist. Seine Antwort kommt um 5:30 Uhr, ich bin gerade aufgewacht. „Gut war es, viele Deutsche unter den Zuschauern, war zwar nicht einfach für uns, aber am Ende haben sie doch ganz toll mitgemacht“, schreibt er. „Dann haben wir noch lange miteinander geredet. Sie fragten, ob es stimmt, dass die Russen unsere Wohngebiete bombardieren. Wir zeigten ihnen daraufhin die ganz frischen Bilder, also von heute, da waren sie ziemlich geschockt.”
Ich habe diese Fotos auch gesehen, das Zentrum von Charkiw wurde wieder beschossen, in den Nachrichten sowie in den Telegramkanälen sieht man erneut Straßen voller Schutt und Asche, zerstörte Gebäude und blutende Menschen. Das hätten meine Freunde sein können. Das hätten die Kinder meiner Freunde sein können. Das hätten meine Verwandten sein können. So sieht russisches Roulette 2023 aus …
Ich kann den Schock der deutschen Zuschauer nachvollziehen – es ist tatsächlich nicht zu fassen. Als ich in Charkiw war, stellte ich fest, dass es sogar unbegreiflich bleibt, wenn Du es mit eigenen Augen gesehen hast. Jeden Tag ging ich an dem halbzerstörten Haus meines Onkels vorbei und dann die heftig beschossene Myronosytska Straße entlang, und konnte jedes Mal nicht glauben, dass ich sehe, was ich sehe.
Seit inzwischen fast einem Jahr beobachte ich, wie meine Heimat im Rampenlicht steht. In anderen, friedlichen Zeiten hätte ich mich wahrscheinlich darüber gefreut. Die gelb-blauen Fahnen in Berlin, Konzerte von Bands aus Lwiw, Kiew, Ternopil und Charkiw in den europäischen Klubs, Romane ukrainischer Autoren in den Schaufenstern deutscher Buchläden... Gestern fand ich meinen Sohn beim Lesen des im vergangenen Jahr erschienenen Buches „Ukraine Verstehen“. Und ich wurde neulich eingeladen, einen Text über die Ursprünge des ukrainischen Punk zu erweitern, den ich vor einigen Jahren geschrieben habe.
Auf meinem Rechner fand ich die alte Fassung davon und suchte auf den CD-Regalen die Alben aus, die mich damals beim Schreiben inspirierten. Erstaunlicherweise ist das spannendste Tondokument der alternativen ukrainischen Musikszene der späten 1980er und frühen 1990er ausgerechnet in Deutschland erschienen. Die CD „Novaya Scena – Underground From Ukraine“ kam 1993 bei der Hamburger Plattenfirma What’s So Funny About? raus.
Ich lebte noch in Charkiw und kann mich gut erinnern, wie diese Veröffentlichung bei den Musikfans der Stadt für großes Aufsehen sorgte – oder genauer gesagt, war es eher die Tatsache, dass es überhaupt passiert ist. Damals waren CDs noch relativ selten, und an CDs ukrainischer Bands kann ich mich überhaupt nicht erinnern. Sie kamen etwas später, glaube ich. Und plötzlich eine Kompilation der Undergroundmusik aus Charkiw und Kiew mit 20 Stücken, 73 Minuten Gitarreknirschen und verzerrte Gesänge, das war ein kleiner Triumph!
Ich war beim Releasekonzert dabei, es fand im neu eröffneten Operntheater statt (da wo 2022 angeblich zwei russische Raketen landeten, ohne zu explodieren). Ich weiß nicht, wie viele Leute im Publikum CD-Player besaßen, wahrscheinlich nur ganz wenige, aber stolz auf die Leistung unserer Musiker*innen waren wir trotzdem alle! Aber hätte ich mir damals vorstellen können, dass man diese Musik auch 31 Jahre später noch entdecken würde? Wahrscheinlich nicht…
Heute hört die ganze Welt der Ukraine zu. Und die Ukraine zahlt einen viel zu hohen Preis dafür!
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