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Reiselektüre von Yuriy Gurzhy.

© Yuriy Gurzhy

Ukrainisches Kriegstagebuch (118): Zwei Bücher in meinem Rucksack

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

Stand:

14.3.2022
Um 5.16 Uhr geht heute mein Zug nach Mannheim. Vorletzte Woche war ich fünf Tage dort, auf Einladung von Anastasiia Kosodii, die dort in dieser Saison die Hausautorin am Nationaltheater ist. Da ich seit Jahren ihre Arbeit bewundere, freue ich mich sehr, Musik für ihr neues Stück schreiben zu dürfen.

Sei es der russischer Krieg im Donbass oder der Antisemitismus in der Ukraine – Anastasiia hat keine Angst davor, in ihren Texten ganz schwierige Themen anzusprechen. Auch das neue Werk, an dem wir gerade arbeiten, „Wie man mit den Toten spricht“, ist da keine Ausnahme – es geht um die traumatischen Ereignisse des vergangenen Jahres.

In meiner Abwesenheit wurde fleißig geprobt, unter anderem hätten die Schauspieler die drei Songs üben sollen, die Anastasiia und ich für sie geschrieben haben. Ich bin auf ihren Fortschritt gespannt. Diesmal bleibe ich nur für drei Tage da, also lasse ich meinen großen Koffer zu Hause und nehme stattdessen nur meine Gitarre mit und einen Rucksack, in den ich noch zwei Bücher reinzuquetsche.

Obwohl es mir gerade schwer fällt, etwas anderes als Nachrichten zu lesen, gebe ich die Hoffnung nicht auf, dass es sich eines Tages ändert. Vielleicht ist dieser Tag heute! oder morgen! Seit Wochen lese ich „Away From Beloved Lover“ der britischen Autorin Dee Peyok, die in Kambodscha jahrelang zur Geschichte der Pop- und Rockmusik der 1960/70er geforscht hat.

Sie berichtet von einer bunten, vitalen Szene, die so gut wie komplett vom Regime der Roten Khmer ausgelöscht wurde. Jedes Mal, wenn ich von dieser unfassbaren Tragödie lese, muss ich an etwas denken, was eigentlich weder mit Kambodscha noch mit Popmusik zu tun hat, und zwar an die Renaissance der ukrainischen Kultur in den 1920ern – und an ihr furchtbares Ende.

Das zweite Buch, das ich auf diese Reise mitnehme, stammt von Mike Johansen, einem der bedeutendsten und schillerndsten ukrainischen Autoren dieser Epoche. Nachdem vergangenes Jahr zu Johansens 127. Geburtstag die englische Übersetzung seines Romans mit dem langen exzentrischen Titel „Die Reise des gelehrten Doktor Leonardo und seiner zukünftigen Geliebten, der schönen Alceste, in die Slobidische Schweiz“ erschienen ist, kam Ende Februar im Schweizer Secession Verlag auch die deutsche Fassung heraus.

Würde ein zufälliger ICE-Gast dieses Buch in meinen Händen sehen und den Autorennamen lesen können, würde er wahrscheinlich nie denken, es sei der Name eines der bedeutendsten ukrainischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Aber das war Johansen, der Sohn eines Deutschlehrers deutsch-baltischer Abstammung, tatsächlich – und noch viel mehr. Lyriker (der auch auf Deutsch schrieb), Publizist, Dramatiker, Drehbuchautor, Literaturwissenschaftler, Übersetzer, Polyglott und mit 42 Jahren Opfer der stalinistischen Repressionen.

Am Gesundbrunnen steige ich in den Zug ein. Zu dieser Stunde ist er noch ziemlich leer, ich kann das gut nachvollziehen. Ich finde meinen Platz, stelle die Gitarre ab, gieße mir einen Kaffee aus der Thermoskanne ein und lese meinen Facebook-Feed. Verrückt, gleich die erste Meldung, die ich sehe, hat direkten Johansen-Bezug!

In New York feierte „Radio 477!“ Premiere – eine Revue, die zum ersten Mal 1929 auf der Bühne des innovativen Charkiwer Theaters Beresil gespielt wurde, inszeniert vom legendären Les Kurbas. Die Originalmusik schrieb Julij Mejtus und die Texte dazu stammen von Mike Johansen. Es sind die ersten Jazz Experimente auf dem ukrainischen Boden gewesen, von denen wir heute wissen. Vor wenigen Jahren fand man einen Teil der Mejtus’ Partitur – für die Neuinszenierung wurde sie überarbeitet von keinem Geringeren als Anthony Coleman.

Neben John Zorn und Frank London (der übrigens die Vorstellung live begleitet) ist Coleman seit Jahrzehnten einer der wichtigsten Akteure der New Yorker Downtownszene. Die Liedtexte Johansens sind leider verloren, die neuen steuerte Serhij Zhadan bei. Auf einem Facebook-Foto sieht man ihm in der ersten Reihe, direkt vor der Bühne, drei Plätze weiter sitzt der Historiker Timothy Snyder, in der vierten Reihe erkennt man Eugene Hutz von Gogol Bordello… 86 Jahre nach ihrem tragischen Tod haben Johansen und Kurbas es nach New York geschafft.

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