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Alina Kostyukova, Leonard Burkhardt und Annemarie Brüntjen in „Wie man mit Toten spricht“.

© Maximilian Borchardt

Ukrainisches Kriegstagebuch (129): Mit Toten sprechen in Mannheim

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

25.4.2023
Um 19.45 Uhr öffnen sich die Türen des Nationaltheaters Mannheim und die Zuschauer*innen werden hereingelassen. Heute bin ich einer von ihnen, setze mich in die dritte Reihe, schaue auf die Bühne. Im Gegensatz zu den anderen bin ich nicht überrascht, dort die Schauspieler*innen schon jetzt, vor dem eigentlichen Beginn der Aufführung von „Wie man mit Toten spricht“ zu sehen. Ich weiß genau, was in den kommenden 80 Minuten passieren wird. In den vergangenen Wochen habe ich dieses Stück mindestens einmal am Tag in voller Länge erlebt, manche Szenen sogar noch öfter.

Ich habe dafür die Musik geschrieben, Geräusche ausgesucht, Sounds gebastelt und mit den Schauspieler*innen geprobt. Ich glaube manchmal, dass ich das Ganze mittlerweile auswendig kenne, jeden Satz, jeden Lichtwechsel, jede Bewegung. Auch wenn es nicht das erste Mal ist, dass meine Musik bei einer Theateraufführung zu hören ist, ist es für mich trotzdem sehr aufregend.

Das Licht im Saal geht aus. „In einer Stadt weit weg im Südosten der Ukraine, die Stadt heißt Saporischschja, rief meine Oma meine Mama an und sagte, sie fühle sich nicht gut“, fängt Annemarie Brüning an und mir wird plötzlich klar, dass ich diesen schon hundertmal gehörten Text heute ganz anders wahrnehme.

Meinen ersten Plattenspieler hat mir mein Opa gekauft, als ich noch ganz klein war. Ich hatte einen eigenen Stapel Platten – mit Musik konnte ich damals wenig anfangen, aber Hörbücher fand ich toll. Die sowjetischen Audiomärchen waren manchmal etwas schräg, wahrscheinlich waren die Zensoren vom Kulturministerium entspannter, wenn es nicht um Popmusik, sondern um Platten für Kinder ging.

Auch „Der blaue Vogel“ war so eine seltsame Platte. Die Vorlage, geschrieben von Maurice Maeterlinck, fand ich irgendwann unter hunderten von Büchern in den Regalen unserer Wohnung. Acht oder neun war ich damals und „Der blaue Vogel“ war das erste Theaterstück, das mir begegnete. Das Format war neu und gewöhnungsbedürftig. Aber als ich später im Schultheater mitgemacht habe, wurde mir klar, wie es funktioniert.

Die erste Textfassung von „Wie man mit Toten spricht“, die mir geschickt wurde, sah gar nicht nach einem Theaterstück aus. Es fehlte die Rollenverteilung und so, wie ich es bereits von anderen Werken von Anastasiia Kosodii kannte, gab es keine Satzzeichen. Sie zu lesen war nicht einfach, ich spürte mit jeder Seite, dass die Autorin durch die Hölle gegangen sein muss, um ihre Erfahrungen, Eindrücke und Emotionen aufzuschreiben, dass für jeden Satz ein hoher Preis bezahlt wurde.

Manche Menschen und Orte, die im Text vorkommen und bereits nicht mehr existieren, kannte ich auch. Mit jeder Szene spürte ich Schmerz und Wut, und war gespannt, wie es für die Schauspieler*innen sein würde, damit zu arbeiten – vor allem für die nicht aus der Ukraine stammenden Annemarie und Leonard Burkhardt. Ihre in Charkiw geborene, in Kiew lebende Kollegin Alina Kostyukova, die im Frühling 2022 die Ukraine verlassen hat und in Deutschland gelandet war, hatte schon bei einigen Inszenierungen von Kosodiis Texten mitgewirkt.

Als ich vor zwei Monaten nach Mannheim gekommen war, war ich von den Fortschritten des Teams begeistert. So ging es mir jedes Mal, wenn ich mich nach einer Pause im Proberaum des Nationaltheaters wiederfand. Jedoch erst jetzt begreife ich, dass mein Gehirn eine Schutzreaktion aktiviert hatte: Auch wenn ich den Text oft gehört habe, habe ich nur ganz selten darüber nachgedacht – bis heute Abend.

Ich sehe, wie manche im Publikum weinen. Wenn die Schauspieler*innen auf der Bühne gerade nicht sprechen, ist die Stille im Saal absolut. „Wie man mit Toten spricht“ tut weh, aber ich bin überzeugt, dass wir diesen Schmerz brauchen, um die Geschehnisse von heute verarbeiten zu können.

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