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Der Rest einer Pizza

© Yuriy Gurzhy

Ukrainisches Kriegstagebuch (135): Das Smartphone in schlaflosen Nächten

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

Stand:

16.5. 2023

Auf dem Rechner habe ich einen Ordner mit den Bildern meines Vaters, der eine große Leidenschaft für Fotografie hatte. Ich schaue sie mir manchmal an und glaube in den meisten Fällen erraten zu können, was ihn dazu bewegte, dies oder jenes festzuhalten. Er suchte nach Schönheit – und wurde oft fündig. 

Ich dagegen fotografiere nicht so gern, auch wenn ich mein Handy immer zur Hand habe. Das heißt aber nicht, dass ich im Telefonspeicher wenig Fotos habe, ganz im Gegenteil. Meine Fotos sind Notizen, Spickzettel und Erinnerungen
an mich selbst. Dass im Jahre 2060 jemand darauf kommt, was ich damit ausdrücken wollte, bezweifle ich – manchmal weiß ich es selbst nach zwei Wochen nicht mehr. 

Moloch & Nadiya im Panda Platforma

Gestern Nacht las ich, dass Kiew gerade beschossen wird. Danach konnte ich nicht mehr einschlafen. Ich lag im gemütlichen Bett in der absoluten Stille einer Leipziger Nacht, zählte Schafe, probierte Atemübungen, blieb aber trotzdem wach. Dann kam ich auf die Idee, die Bilder in meinem Handy zu sortieren.

Und ich entdeckte: ein Konzertplakat von Moloch & Nadiya. Diesen Freitag spielen sie in Berlin im Panda Platforma. Ich habe zwar eine eigene Veranstaltung an diesem Abend, wollte aber trotzdem meinen Freunden in der Hauptstadt Bescheid sagen. Ihr müsst auf jeden Fall zu dem Konzert gehen!

Georgier und Ukrainer

Dann entdeckte ich: ein Foto vom köstlichen Chatschapuri-Käsebrot aus dem georgischen Imbiss in der Karl-Heine-Straße (ebenso in Leipzig), wo ich neulich ein herzliches Gespräch mit dem Besitzer führte. „Weißt Du, seit 30 Jahren haben wir in Georgien mit den Russen Stress. Aber hier hat man das selten verstanden, man guckte einfach weg, wollte es nicht glauben!” Als ich ging, sagte er „Slawa Ukraini!”

Schließlich sah ich den Screenshot einer Email, gespeichert, um darauf zu reagieren. Eine Journalistin schickte mir den Link zu ihrem Interview mit der russischen Autorin Karina Baranova, die gerade einen deutschen Literaturpreis bekommen hat. Danke schön, erwiderte ich, aber russische Literatur interessiert mich nicht.

Die Journalistin schrieb eine weitere Mail: „Lieber Yuriy, es ist nicht so, wie es vielleicht aussieht, mir ist die ukrainische Community sehr wichtig! Baranova ist eine relevante Stimme, außerdem hat sie ukrainische Vorfahren.”

Ich dachte dann, okay, ich lese mal rein, stolperte aber gleich am Anfang, da die mittlerweile im deutschen Exil lebende Baranova überlegt, ob die Ukrainer den russen jeweils vergeben können. Ich wollte der Journalistin schreiben, dass diese Frage wichtig sei, jedoch gerade unzeitgemäß und etwas taktlos wirkt. Würde man sich trauen, den ukrainischen Schriftstellern, die gerade an der Front sind, auch solche Fragen zu stellen? Was würden sie darauf antworten? 

Noch ein Screenshot, diesmal von einem Musikvideo. Der Song eines mir unbekannten deutschen Liedermachers heißt „russland“. Das Video zeigt einen nicht ganz jungen, nachdenklichen Typen in Jeansjacke und Hut. Eine Liebeserklärung an das wunderbare Land und eine klare Ansage zum Krieg sei das, steht in der Beschreibung. Mit besorgtem Gesichtsausdruck behauptet der Sänger, er möchte russland verstehen. Das Wort Ukraine taucht in seinem Lied kein einziges Mal auf. 

Ich wollte unter dem Song einen Kommentar hinterlassen, gab aber auf. Stattdessen suchte ich nach Videos von meiner Lieblingssängerin Romica Puceanu. Vielleicht schlägt mir der Algorithmus in Zukunft lieber ihre Songs vor. Das wäre doch toll!. 

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