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Außenansicht vom Bahnhof mit Rathenauplatz, Bautzen, Sachsen, Deutschland *** Exterior view of train station with Rathenauplatz, Bautzen, Saxony, Germany

© IMAGO/Hanke

Ukrainisches Kriegstagebuch (140): Innige Bahnhofsbegegnungen mit Fremden

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

3.6.2023
Es war unser erster Morgen auf dem Festivalgelände und ziemlich surreal: Wir waren einen Tag früher aus Deutschland angereist, begaben uns, zusammen mit unserem Jetlag, auf die Suche nach Frühstück. Eine ausgedehnte Wiese mit Zelten und Bühnen vor uns, auf beiden Seiten atemberaubende Hügel von Upstate New York… In der Ferne sahen wir ein Pärchen, das sich in unsere Richtung bewegte und als es näher kam, hörten wir „Guten Morgen und Entschuldigung, aber bist du zufällig Yuriy Gurzhy?“

Mit Zhenia, der wie ich aus Charkiw stammt und seit 30 Jahren in den USA lebt, habe ich viele gemeinsame Freunde. Es fühlt sich an, als hätten wir uns unser ganzes Leben gekannt. Wir standen also da auf der Wiese und erinnerten uns – zur Irritation von seiner Freundin Lena und meiner Berliner Kollegen – an Koshmar aus Charkiw, Sasha aus New York, Marina aus Verona und Asia aus Tel Aviv.

Fünf Jahre sind seit dieser Begegnung vergangen, aber jedes Mal wenn wir uns sehen, verlaufen unsere Gespräche ähnlich. Dieses Wochenende sind er und Lena nach drei Jahren wieder in Berlin zu Gast – was für ein glücklicher Zufall, denn ich bin auch da, obwohl ich momentan mehr Zeit in Leipzig als in der Hauptstadt verbringe.

Und so sitzen Zhenia, Lena und ich am Samstagnachmittag auf meinem viel zu kleinen Balkon, trinken Espresso, essen Wassermelone, tauschen uns aus und verlieren dabei ständig den Faden, weil wir einander so viel zu erzählen haben.

Zhenia will wissen, wie ich Charkiw bei meinem Dezemberbesuch fand. Er hat meine Fotos auf Facebook gesehen, möchte aber mehr hören. Sein Bruder hat bereits in den ersten Tagen des großen Krieges sein Zuhause in den USA verlassen und flog nach Dnipro, wo er monatelang Evakuierungen aus den Kriegsgebieten mitorganisierte. Das Geld, das bei den von Zhenia und Lena initiierten Spendenaufrufen gesammelt wurde, haben sie ihm überwiesen. Lena ließ „Stand With Ukraine“-Anstecker drucken und konnte Hunderte davon verkaufen, das war eine erfolgreiche Aktion.

„Jemand sprach mich am Bahnhof in London auf der Rolltreppe an, als er diesen Anstecker auf meinem Rucksack bemerkte“, erzählt sie. „Er sagte ,Ruhm der Ukraine!’ und ich antwortete mit ,Ruhm den Helden!’. Wir umarmten uns und blieben so stehen, bis die Rolltreppe zu Ende war. Dann gingen wir in verschiedene Richtungen, ohne ein weiteres Wort zu wechseln“”.

Wissen Sie, wo man hier das Deutschlandticket kaufen könnte?

Ich muss an meine gestrige Begegnung am Bautzener Bahnhof denken. Um halb zehn stieg ich aus dem Zug und hörte plötzlich hinter mir eine Stimme: „Sind Sie wirklich aus Charkiw?“ Wie kann man drauf kommen, überlegte ich kurz, gibt es auf meinem Rücken etwas, was meine Herkunft verrät? Eine Frau Anfang dreißig lächelte mich unsicher an. „Ich habe bloß ihren Beutel gesehen.“ Ach so, klar, auf meinem Beutel ist tatsächlich groß das Logo des Charkiw MeetDocs Festivals zu sehen. Wir kommen ins Gespräch.

Ihr kleiner Sohn und sie sind im März 2022 aus Charkiw geflohen. Dort wohnten sie in Saltiwka, einem Plattenbaubezirk am Rande der Stadt, der im Frühling des vergangenen Jahres permanent beschossen wurde. Sie sind in Bischofswerda untergekommen, eine Freundin ihrer Schwester hat in ihrem kleinen Hotel mehrere ukrainische Flüchtlinge untergebracht.

Sie lernt Deutsch und hofft, in absehbarer Zukunft wieder als Turntrainerin arbeiten zu können, im Moment kann sie mit ihrem A1-Sprachniveau nur einen Job in der Kita bekommen. „Da lerne ich dann die Sprache zusammen mit den Kleinen, das ist doch auch nicht schlecht“, lacht sie. Sie will unbedingt nach Charkiw zurückkehren, aber mit dem Kind traut sie sich noch nicht in die Ukraine.

Unser Gespräch belauscht ein älteres Pärchen. „Bitte entschuldigen Sie, wissen Sie, wo man hier das Deutschlandticket kaufen könnte? Wir sprechen leider kein Deutsch …“ Wir gehen zusammen zum Schalter und finden heraus, dass es nur in Dresden ginge. Ich habe das Gefühl, ich hätte am Bahnhof in Bautzen noch Dutzende Landsleute treffen können, wenn ich länger geblieben wäre.

Zhenia und Lena müssen weiter, aber nächste Woche reisen sie nach Leipzig, wo ein alter Bekannter von ihnen lebt. Ich hoffe, wir sehen uns dort wieder und setzen unsere nie enden wollende Unterhaltung fort.

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